Der kleine Mann stand schon vorm Edeka, als es noch Kaiser’s war. Lächelnd verkaufte er die Obdachlosenzeitung. Irgendwann fing ich an, ihm Geld zu geben. Sein Lächeln wurde nun breiter, wenn er mich sah. Ich lächelte zurück. Ich ließ mich brauchen. Es ging mir gut damit. Ein Geber und ein Nehmer – das perfekte Paar. Aber dann, nach Tagen, Wochen, Monaten sagen wir, ein gewisser Ereignisdruck baute sich auf, sobald ich meinen Supermarkt ansteuerte und seine Silhouette davor sah. Manchmal überlegte ich es mir in letzter Sekunde anders und ging gar nicht einkaufen, weil er da wieder stehen, lächeln und seine kalte Hand aufhalten würde. Meine Beträge wurden kleiner, realistischer, sozusagen auf Dauer angelegt.
Nach einigen Monaten war er verschwunden. Eine Frau hatte seinen Platz eingenommen. Sie keifte denen, die nichts gaben, mit gellender Stimme hinterher. Mir auch. Ich war erleichtert, dass der kleine Mann weg war. Vielleicht hatte er einen »richtigen« Job gefunden? Ich war auch erleichtert, dass mir seine Nachfolgerin nicht sympathisch war. Ungeschriebene Verträge vererben sich nicht.
Wochen vergingen, dann war er zurück. Warum? Was war geschehen? War sie seine Urlaubsvertretung, war er krank gewesen? War sie seine Schwester, Tochter, Frau? War dem Kassenwart in der Zentrale des organisierten Verbrechens aufgefallen, dass ein gewisser täglicher Betrag, mein Betrag, nun ersatzlos weggefallen war? Da macht ja sicher irgendwer die Bilanzen. Fünfundzwanzig Euro weniger im Monat, dann tauschen wir den Posten wieder zurück. Er war wieder da und lächelte mich breit an. »Heute nicht«, sagte ich im Vorbeigehen, ohne den Schritt zu verlangsamen, obwohl er gar nichts gefragt hatte. Warum ging er nicht einfach weg, woandershin? Ich hatte mittlerweile zwei Geflüchtete zu Hause, die es durchzufüttern galt. Warum suchte er sich nicht einen ordentlichen Job, das konnte doch nur ein Übergang sein?
Zwei Wochen lang gab ich ihm nichts, sein Lächeln wurde jeden Tag frostiger. Nach und nach entfreundeten, entfremdeten wir uns, begegneten uns mit dem Unbehagen verstrittener Nachbarn im Hausflur. Vielleicht bilde ich mir das aber alles nur ein. Vielleicht war das der Film, den die Scham über meine neue Knauserigkeit in meinem Kopf abgespult hat. Jedenfalls ging es mir nicht gut mit der Situation.
Der Tag kam, als ich ihm wieder ein Fünfzigcentstück in die Faust schob. Ich wollte, dass es aufhört, dass es wieder gut ist, dass er wieder lächelt. Das geht bis heute so, kleinere Münzen als früher. Wenn ich rauskomme, halte ich sie schon in der Hand, um ihm und mir ein Herumkramen im Portemonnaie zu ersparen. Es ist Geld, das ich auf der einen Seite verdienen und versteuern muss und das ihn auf der anderen Seite vielleicht davon abhält, sein Leben in die Hand zu nehmen.
Das Geld, das ich ihm gebe, steht ihm zu, weil ich ihn darauf konditioniert habe. Gewohnheitsrecht. Gehört das auch zum Helfersyndrom? Dass der Mensch ungebeten Verträge eingeht und, sobald ein Anspruch eintritt, sauer wird? Oder ist das eine andere Deformation? Wie hatte damals der Swami in Kalkutta gesagt? »Wenn du einem Bettler die Reisschüssel füllst, dann steht er zwanzig Jahre später da mit zwanzig Kindern.«
Der kleine, zufällig vor meinem Supermarkt vorhandene Mann wird zum Resonanzkörper meines Gutseinwollens und gleichzeitig zum Dorn in meinem Fleisch, das muss man sich mal vorstellen. Der steht ja nur da und bietet eine Zeitung feil, während in mir Deutungskollisionen toben. Er hat mir nichts getan, dennoch löst sein Anblick in mir Emotionen und Gedanken aus. Noch einen Monat vorher hatte es mich regelrecht beseelt, ihm mein Wechselgeld zu schenken. Jetzt spürte ich Zorn und Ohnmacht. Was war passiert?
Ich hatte eine Alltagssituation dermaßen personalisiert, dass ich mich von ihr eingeengt fühlte. Auf der Stirn des kleinen Mannes stand mein Name. In Großbuchstaben stand da ELSE, von mir persönlich hineintätowiert.