Mit geballter Faust und erhobenem Regenschirm wettert der Wutbürger gegen fast jede Art von Fortschritt. Erlaubt ist nur, was garantiert nicht auf seine Kosten geht.
Der 7. September war ein schöner Tag. »Nur der Wind pfiff über die gepflegte Wiese hinter dem Campus der Hochschule Bochum.« Das berichtete der Reporter des Onlineportals Der Westen vor einem Monat. Und er erzählte von der Erbsensuppe und dem Bier, die es gab – zur Feier des Tages. Denn an diesem Tag wurde der Grundstein für das Internationale Geothermiezentrum gelegt. Geothermie ist die Kunst, die im Erdreich gespeicherte Wärme zu nutzen. 99 Prozent der Erde sind wärmer als 100 Grad Celsius, allein die oberen drei Kilometer der Erdkruste könnten die Welt auf 100 000 Jahre mit sauberer Energie versorgen. Jener windige Tag hätte also ein Tag voller Zukunftslust und Mut werden können.
Tatsächlich aber bemühen sich selbst die Macher um Mäßigung, der Vorstand des Geothermiezentrums, Rolf Bracke, formuliert vorsichtig Sätze wie diesen: »Wir verstehen, dass die Menschen Angst haben.« Dort, wo man die Freude auf ein besseres Morgen vermutet hätte, stand nur noch die Angst vor IHM, dem »Wutbürger« – in all seiner Grimmigkeit. Immerhin hatte ER schon ganz andere Projekte verhindert, da muss man heutzutage gerüstet sein. Deshalb will man in Bochum auf die Bürger zugehen, ein Kommunikationszentrum eröffnen, alle Daten ins Internet stellen. Man möchte nicht den Zorn der Anwohner herausfordern. Man will keine Angst vor Technologie schüren. Das Wort »Zukunft« wird ebenso vermieden wie das Wort »Fortschritt«. Es ist, als würde man davon zurzeit eine Allergie bekommen.
Sicher: Saubere, natürliche Energie aus der Erde – was für eine Idee! Und sie soll ausgerechnet in Bochum erforscht und präzisiert werden, also in der Region, die Deutschland über Jahrzehnte mit Steinkohle versorgte. Dann wurde vor fast vierzig Jahren die letzte Zeche geschlossen, Bochum verarmte – und hinterließ der Welt mit all der verfeuerten Kohle und den Industrieanlagen nicht nur eine urbane Pleite, sondern auch noch einen Teil des Klimaproblems und der Kohlendioxid-Apokalypse. Müsste man sich nicht wie verrückt freuen über die Hoffnung, die in einem Geothermiezentrum wohnen kann?
Nicht, wenn man ein Wutbürger ist, also einer jener Menschen, die seit einem Jahr die öffentliche Debatte beherrschen – und wie nebenher auch die Kunst der Transformation perfektioniert haben. Aus Chancen werden im wutbürgerlichen Reich immer Risiken, aus »dafür« immer »dagegen«, aus einer Möglichkeit eine Bedrohung. Obwohl schon etwa zwanzig Prozent aller Neubauten die Erdwärme nutzen, steht man der neuen Technologie mit großer Skepsis gegenüber. Nicht völlig unbegründet, denn das Herumbohren im Erdreich – in Bochum wollen die Forscher bis zu einer Tiefe von 5000 Metern vorstoßen – birgt durchaus Risiken, und tatsächlich gab es wegen Mini-Beben schon Schäden an Häusern. Aber eben darum sollen diese Risiken ja durch Forschung abgeklärt werden. Wäre da nur nicht die »Angst«, von der das Wutbürgertum so gut lebt.
Seit einem Jahr leben wir in Deutschland mit dem Wutbürger: Man muss begreifen, dass er sehr mächtig wurde in diesem Jahr. Mächtig und allgegenwärtig.
Am 11. Oktober 2010 schrieb der Journalist Dirk Kurbjuweit ein Essay, das im Spiegel veröffentlicht wurde. Es trug den Titel »Der Wutbürger«. Es ist die Geburtsurkunde einer Spezies, die es so nur in Deutschland gibt. Die Angst und die Wut haben hier ihr Hauptquartier bezogen. Kurbjuweit schrieb: »Eine neue Gestalt macht sich wichtig in der deutschen Gesellschaft: Das ist der Wutbürger. Er bricht mit der bürgerlichen Tradition, dass zur politischen Mitte auch eine innere Mitte gehört, also Gelassenheit, Contenance. Der Wutbürger buht, schreit, hasst. Er ist konservativ, wohlhabend und nicht mehr jung. Früher war er staatstragend, jetzt ist er zutiefst empört über die Politiker. Er zeigt sich bei Veranstaltungen mit Thilo Sarrazin und bei Demonstrationen gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21.«
Bei alledem hat der Wutbürger das schöne Gefühl, seine Wut diene letztlich dem Allgemeinwohl. Und das ist das größte Missverständnis unserer Zeit. Denn der Wutbürger ist vor allem dies: ein Egoist, der sich nicht kümmert um die Welt, sondern vor allem den eigenen Besitzstand gewahrt sehen möchte.
»Alte Männer sind gefährlich«
Das ist ein Ergebnis jener Studie, die soeben vom Göttinger Institut für Demokratieforschung vorgelegt wurde. Der Politikwissenschaftler Franz Walter schreibt darin: »Die Handlungsmotive der Bürgerproteste … sind nicht allein von der selbstlosen Sorge um den Bestand der Fledermäuse, rarer Biotope, uralter Bäume angetrieben. Die umtriebigen Wortführer gegen Flughafenausbau, Windräder und Oberleitungen – ins Auge fällt der durchweg reaktive, bestandsverteidigende Wesenszug der bürgerlichen Auflehnung – sind in bemerkenswert großem Umfang (von über 90 Prozent) Grundstückseigentümer und Hausbesitzer. Sehr prosaisch formuliert: Die Immobilienwerte stehen auf dem Spiel, wenn Stromleitungen und Windräder in einem bis dahin beschaulichen Kurort den Blick auf eine Caspar-David-Friedrich-Landschaft verstellen, wenn Flugzeuge die Ruhe der Anwohner empfindlich zu stören drohen.« Man möchte, was die Flugzeuge angeht, ergänzen: die von den Wutbürgern für sehr wenig Geld bemüht werden, um von A nach B zu kommen. Am besten zur nächsten »Demo«.
Auf der Geburtsurkunde des Wutbürgers, der tatsächlich, wie Kurbjuweit schrieb, »nicht mehr jung« ist (laut der Walter-Studie haben 70 Prozent aller an der Studie beteiligten Personen das 45. Lebensjahr bereits hinter sich gelassen), ist ein Bild zu sehen, worauf sich die mit Trillerpfeifen ausgestatteten Senioren unter einem durchgestrichenen »Stuttgart 21«-Plakat versammeln. Der Protest gegen einen neuen, modernen, unterirdisch organisierten Bahnhof war denn auch das Initial der neuen, trillernden und buuuhenden Tiraden-Gesellschaft. Ausgerechnet ein Bahnhof: Als wäre das Zugfahren nebst notwendigem Zubehör ein geeignetes Feindbild für die Wutbürger, die sich aber dennoch unverdrossen als ökologisch orientiert gerieren. Obwohl der neue Bahnhof leistungsstärker wäre und damit das Bahnfahren befördern würde, eines der umweltfreundlichsten Fortbewegungsmittel überhaupt.
Vom großen Platz vor dem Stuttgarter Bahnhof aus bahnte sich der lärmende Protestzug agiler älterer Grundstückseigentümer, die sich um den zukünftigen Immobilienwert mindestens so sorgen müssen wie um die Zukunft selbst, einen breiten Weg hinein in das große allgemeine Dagegensein. Die Wutbürger agitierten gegen den Bau von Golfplätzen und Landebahnen gleichermaßen, gegen einen neuen Konzertsaal in Bonn und eine neue Brücke in Dresden, sie gründeten die NOlympia-Bewegung in Garmisch; sie wetterten gegen Windkraftanlagen in der Uckermark und demonstrierten gegen ein Pumpspeicherkraftwerk im Schwarzwald. In München wollten sie den Abriss verhindern (nämlich der »Schwabinger 7«, die eine nachkriegserbärmliche Komasaufen-Kneipe war) – wie sie anderswo den Aufbau verhindern wollen. Abriss? Schlecht! Aufbau? Schlimmer!
Der Münchner Soziologe Armin Nassehi spricht bereits von »eventmäßigen Protesten«. Ein Cartoon aus der FAZ bringt es auf den Punkt. Ein Mann hält ein Schild hoch. Darauf ist zu lesen: »Gegen Atomkraft und Nazis!« Ein Mann kommt hinzu und fragt: »Sehen Sie da einen Zusammenhang?« Die Antwort des Wutbürgers: »Nein. Aber wenn ich schon mal auf die Straße gehe!«
Wut ist ein Vorrecht von Kindern und Fußballfans. Wut und Bürger: Das sind zwei Begriffe, die sich ausschließen. Der Bauleiter des Stuttgarter Bahnhofsprojekts gab auf, weil er sich schließlich bedroht fühlte: von einem Mob im Gewand des aufgeklärten Bürgertums, das mittlerweile radikale Tendenzen zeigt. Der Unmut »individuell saturierter Menschen«, so ein weiteres Ergebnis der Walter-Studie, könnte sich in schierer Militanz ausdrücken: Immerhin 15 Prozent der Befragten »betrachten Sachbeschädigung als geeignetes Mittel, um das ungeliebte Bahnhofsvorhaben zu obstruieren«. Da rollt etwas auf uns zu. »Im alternden Deutschland«, so Franz Walter, »werden die Wutbürger auch in den nächsten Jahrzehnten vermutlich stärker Akteure der Unzufriedenheit und des Protests bleiben« – als etwa die »Kleingruppe juveniler Nachwuchskohorten«, die zum Beispiel in Berlin Autos in Brand stecken. Die Wutbürger, die gegen Bahnmanager protestierten, als fände der arabische Frühling im deutschen Herbst seine Erfüllung, sind gefährlicher als lokale Brandherde: Sie stecken ein ganzes Land an.
Von George Bernard Shaw ist dieser Satz bekannt: »Alte Männer sind gefährlich. Ihnen ist die Zukunft egal.« Unter den Wutbürgern sind nur 1,1 Prozent jünger als 25 Jahre. Den Nachgeborenen kann die Zukunft nicht egal sein. Die Wutbürger betrügen sie um jede Perspektive, sie verbauen unseren Kindern den Weg in das ökologische Zeitalter und eine neue Moderne. Weg mit der Wut.
Illustration: Damentennis, Foto: Reuters