Ich bin halb Ohr

Unsere Autorin verliert immer wieder Schmuck, vor allem Ohrringe. Sehr zu ihrem Leidwesen. Als sie herausfinden will, welcher Verschluss am besten hält, macht sie eine Entdeckung.

Die U5 ratterte in Richtung München-Neuperlach an diesem kalten Septemberabend Ende der Neunzigerjahre, als ich plötzlich mein leeres Ohrläppchen zwischen den Fingern hielt und mir das Herz schneller zum Bauchnabel rutschte als zwei Stunden vorher im »Free Fall«. Ich war 17 und auf dem Heimweg vom Oktoberfest – im Secondhanddirndl, kombiniert mit DocMartens und Jeansjacke, ganz wie es der damaligen Teenager-Wiesnmode entsprach. Dazu allerdings echten, wunderschönen Trachtenschmuck, ich hatte mir für diesen Ausflug die Hochzeitsohrringe meiner Mutter, äh, geliehen. Und nun war einer weg.

Was jetzt? Dieses schockgefrostete Gefühl zwischen Panik, Trauer und Selbsthass, weil ich mal wieder irgendetwas Wichtiges verbummelt hatte (Zahnspange, Brille, teuren Schmuck), war mir schlampiger Teenagerin wohlvertraut, und normalerweise bekämpfte ich es, indem ich betend – »Bitte, bitte, lieber Gott, mach, dass ich die Zahnspange gleich wiederfinde« – das ganze Schulhaus, den Heimweg, die Wohnung absuchte und manchmal das Verlorene sogar wiederfand. Einen Ohrstecker auf dem größten Volksfest der Welt zu finden, erschien mir allerdings hoffnungslos. Mir blieb nichts außer Heimgehen und Beichten.

Davor und danach habe ich unzählige weitere Schmuckstücke verloren, erst kürzlich eine nagelneue Creole, bei der ich doch extra schon beim Kauf auf den Verschluss geachtet hatte: Die Creole war hohl, der Draht zum Verschließen wurde auf der anderen Seite in das Röhrchen gesteckt, sichere Sache. Als ich am Fahrradhelm herumwurstelte und dabei mit den Fingern in den Ohrring kam, löste er sich dennoch und flog mehrere Meter weit ins hohe Gras. Man könnte mir Schmuck mit beiliegendem Haltbarkeitsdatum verkaufen. Den Schreck und das Beten spare ich mir mittlerweile, ich ärgere mich nur noch, schon wieder 50 Euro in die Wiese geschmissen zu haben. Mehr ist es selten, richtig wertvollen Schmuck traue ich mir nicht zu.

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Gegenstände mit Bedeutung aufzuladen, vermeide ich generell – geht doch eh immer alles irgendwann kaputt oder verloren. Wer möchte, kann mir eine Bindungsintoleranz zu Dingen nachsagen. Mein Auto? Hatte nie einen Namen, sondern war eine seelenlose Maschine, die mich von A nach B brachte. Schnittblumen? Hübsche Salatköpfe, die vom ersten Moment an auf dem Esstisch vor sich hingammeln. (Für alle, die mir schon mal welche geschenkt haben: Ich habe mich trotzdem gefreut.) Ich hätte auch ohne einen Diamantring »Ja« gesagt, und dass ich einen besitze, liegt nur daran, dass jemand anderer in dieser Ehe romantisch veranlagt ist. Dass er es bitte nicht persönlich nehmen möge, wenn ich Verlobungs- oder Ehering irgendwann irgendwo liegen lasse, habe ich ihm direkt nach dem Antrag erklärt – und dass es in den vergangenen elf Jahren nicht dazu gekommen ist, halte ich für einen Zufall. Versehentlich hätte ich jetzt fast »Ein Zeichen für die Stärke unserer Beziehung« geschrieben. Aber ich will Gegenstände ja nicht mit Bedeutung aufladen, sonst springen sie bei nächster Gelegenheit in den Gully.

Immerhin bin ich nicht die Einzige, die Schmuck verliert. Der italie­nische Hochspringer Gianmarco Tamberi versenkte bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele seinen Ehering in der Seine, bei seiner Frau entschuldigte er sich mit den Worten: »Zu viel Wasser, zu viel verlorene Kilos, die unbändige Begeisterung für das, was wir taten.« Jürgen Klopp verlor seinen Ehering Anfang des Jahres beim Jubeln, es war nicht das erste Mal. In Interviews erzählte er danach, dass er schon einmal einen professionellen Taucher engagierte, weil das gute Stück nach einem Bad im Meer nicht mehr am Finger war. Kim Kardashian flippte in Keeping Up With the Kardashians völlig aus, als ihr ein 71 000 Euro teurer Diamantohrring vor Bora Bora ins Wasser gerutscht war. Ihr Gekreische wurde gesendet. Dass ihre Schwester Kylie das Schmuckstück zwei Minuten später hervorfischte, nicht.

Meine Ohrringe dürfen höchstens ein Tausendstel davon kosten, trotzdem würde ich sie lieber nicht dauernd verlieren – weswegen ich in den vergangenen Jahren un­freiwillig recherchiert habe, welche Verschlüsse wie gut halten. Meine Zusammenfassung: Es gibt die klassischen Stecker, auch Pousette oder Ohrmutter genannt. Sie pieken im Hals, wenn man telefoniert, und verschwinden ständig im Nirgendwo. Klar, sie sind günstig nach­zukaufen, selbstverständlich habe ich einen Zehnerpack Pousetten im Schmuckkästchen liegen. Doch nicht alle Ohrstecker sind gleich dick, und passt die Mutter nicht perfekt, ist das Ding schon so gut wie weg. Das gilt erst recht für die mit »one size fits all« beworbene Silikonalternative. Diese durchsich­tigen Pfropfen halten gar nicht, ich nutze sie nur noch als Zusatzsicherung, wenn ich der Pousette nicht traue (tue ich nie). Die von mir am liebsten getragenen Creolen haben meistens eine Klappbrisur, auch Damenverschluss oder russischer Verschluss genannt, wenn dieser sich hinterm Ohrläppchen versteckt. Dabei klickt der Verschlussdraht in eine Rinne ein. Einfach zu handhaben, leiert aber schnell aus. Aus dem anfäng­lichen Klick wird ein Pfft, kurze Zeit später ist das Schmuckstück hinfort.

Das Internet hat eine andere Idee für mich – seitdem ich für diesen Text recherchiere, werde ich mit Schmuckwerbung nur so beschossen. Darunter ist ein schwedisches Start-up, das Ohrringe ganz ohne Verschlüsse herstellt, stattdessen dreht man sich die Teile spiralförmig ins Ohrläppchen. Das muss doch eigentlich halten – oder? Bevor ich be­stelle, will ich noch einmal nachsehen, welchen Verschluss der Trachtenohrring meiner Mutter damals eigentlich hatte. Nach ihrem Tod habe ich all ihren Schmuck geerbt, und zum ersten Mal durchsuche ich die ganze Schatulle. Den Trachtenohrring finde ich nicht. Aber viele andere einzelne Ohrringe.