These 1: Die Versprechungen des Pop ziehen nicht mehr

... und das bedeutet vor allem: Das amerikanische Jahrhundert geht zu Ende.

Das Gründungsdokument des Pop ist 233 Jahre alt. Am 4. Juli 1776 standen in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung zwischen all den langen Sätzen, mit denen das britische Empire in die Geschichtsbücher verabschiedet wurde, auch ein paar schöne, einfache Worte, aus denen sich die westliche Welt ihre Zukunft bastelte: »Life, liberty and the pursuit of happiness«. Glück als Möglichkeit, als Versprechen, Ja zu sagen zu dieser neuen Regierungsform, in der alle über alle herrschen sollten. Ja, das große JA!

Knapp 180 Jahre später sagte man statt Glück einfach Fun oder Spaß, gab einem Jungen eine Gitarre in die Hand und schaute zu, wie aus einem Arbeitersohn ein Weltstar wurde. Pop war geboren, dieses komplexe System aus Zeichen und Werten, das das letzte Jahrhundert beherrscht hat. Pop, diese globale Leitkultur, die mit den Mitteln der Musik, des Kinos, der Mode, des Designs, der Fotografie, des Konsums ein Netz von Bedeutungen geschaffen hat, das uns alle trägt. Pop, das war der Kult des Individuums, eine kapitalistische Erfindung, eine demokratische Errungenschaft. Pop, das war mehr als nur Musik, mehr als nur ein Haufen Mädchen, die Unterhosen auf die Bühne schleuderten, mehr als der Soundtrack, der einem beim Erwachsenwerden begleitete.

Pop war eine gesellschaftliche Verabredung, die sehr viel zu tun hatte mit dem Wesen der westlichen Welt, mit Selbstbewusstsein, Selbstfeier, Selbsterfindung, mit Offenheit, Durchlässigkeit, Teilhabe. Im Zeichen des Pop vollzog sich der soziale Wandel des 20. Jahrhunderts. Die alten Eliten verabschiedeten sich, neue Eliten entstanden. Jeder konnte alles werden in dieser neuen Zeit, das war zumindest das Versprechen.

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Aber diese Zeit scheint an ein Ende gekommen zu sein. Es waren drei große Schläge, die den Westen in den letzten zehn Jahren erschütterten, die Anschläge vom 11. September 2001, die Finanzkrise vom Herbst 2008 und der Tod von Michael Jackson am 25. Juni 2009 – auf einer realen Ebene sind die drei Ereignisse vielleicht nicht vergleichbar, auf einer symbolischen allemal. Erst traf es das Inbild des Kapitalismus, und Amerika entschied sich für Krieg. Dann kollabierte das weltweite Geldsystem, und der Westen wankte. Schließlich verabschiedete sich der letzte globale Popstar mit einer letzten tragischen Farce, und die Menschen weinten.

Gerade die Trauer um Jackson zeigte: Hier wurde mehr zu Grabe getragen als ein Sänger, Tänzer, Freak. Jacksons Tod war symbolisch, die bislang letzte der Schockwellen, die das westliche Selbstverständnis erschüttert haben, das Signal eines Systemwandels: Der Pop der Freaks, der Außenseiter geht seinem Ende entgegen, dem Pop der formatierten Angestellten gehört die Zukunft.

Jacksons Tod korreliert mit ökonomischen Fakten und Veränderungen. Der Materialismus als Versprechen hat im Westen ausgedient, in Indien, China, im Rest der Welt noch lange nicht. Wenn der Aufstieg stagniert, wenn die Wirtschaft schrumpft, ist Pop als westliche Selbstvergewisserung passé. Wenn er in ähnlicher Gestalt anderswo auftaucht, wird es nicht der gleiche Pop sein, der vor 233 Jahren ausgerufen wurde. Er wird andere Ideale haben, er wird das Individuum nicht in den Mittelpunkt stellen. Er wird nicht mehr in Kategorien von Optimismus und Euphorie funktionieren. Er wird nicht mehr die Differenz feiern, sondern das Gleichmaß. Die Musik wird es weiter geben, klar. Aber das gesellschaftliche Versprechen wird ein anderes sein. In China ist Kapitalismus ohne Demokratie schon enorm erfolgreich. Die Zukunft gehört dem Pop ohne Demokratieversprechen.

Dass Pop aber mal auch Freiheit bedeutete, das haben in Deutschland viele nicht verstanden, und so ist auch kein Wunder, dass so ein flüchtiges, verführerisches Wort wie Glück nicht im Grundgesetz steht. Bei den Pop-Feinden mischten sich von Anfang an Kulturpessimismus, Bildungsdünkel und Antiamerikanismus – und wenn nun das amerikanische Jahrhundert, das Jahrhundert der großen Kühlschränke und großen Autos, in die Schlussrunde geht, dann stehen sie ziemlich nackt da: weil auch sie nicht wissen, wie sie sich gegenüber dem anti-individualistischen, semi-materialistischen, undemokratischen Dogma einer neuen Weltmacht wie China verhalten sollen. Sie haben Pop immer unterschätzt. Wenn Pop aber Freiheit bedeutete, was bedeutet dann das Ende des Pop für die Freiheit?

Georg Diez hat Bücher über die Beatles und die Rolling Stones geschrieben und wundert sich nicht über das Leuchten in den Augen seiner dreijährigen Tochter, wenn sie John, Paul, George und Ringo hört.