Ich wollte immer dünn sein. Es gibt keine Diät, die ich nicht kenne. Geschätzte fünfzig Mal habe ich eine begonnen. Und manchmal nur zwei Tage durchgehalten. Geschätzte fünfzig Mal habe ich das Abnehmen verschoben – auf später. Klingt klein. Ist groß. Und typisch. Für mich. Zeigt es doch, was ich mit fast allen Vorsätzen mache, die ich gefasst habe: Ich verschiebe ihre Umsetzung. Später ist zu meinem Fluch und zu meinem Zauberwort geworden. Später ist dann, wenn ich endlich das Leben führen werde, das ich führen will, wenn ich die Ketten des Alltags gesprengt und all die Pflichten hinter mir gelassen habe. Nur: Wann ist später? Jetzt? Oder später?
Ich wär so gern konsequent und mutig, unabhängig, unbeschwert und frei. In meinen Träumen wage ich das Ungeheure, das, was mein Leben groß und einmalig macht und mich auf meinem Sterbebett zufrieden lächeln lässt. In Wahrheit besitze ich von all den Eigenschaften höchstens ein Babyfläschchen voll. Ich führe mein anständiges Leben weiter, sage B, weil ich zuvor A gesagt habe. Erwachsene Leute handeln so. Wer das feige nennt, hat auch recht. Während ich die Blumen gieße, Mails beantworte, Steuerunterlagen suche, Geburtstagsgeschenke besorge, den Mund halte, statt dem Kollegen endlich die Meinung zu geigen, den Hund spazieren führe, die Spülmaschine ausräume, einkaufen gehe, Texte pünktlich liefere, fast tadellos funktioniere, mich täglich neu darüber ärgere, dass jemand den Zucker statt rechts vom Tee links über den Reis gestellt hat, denke ich: Du kannst nicht alles, was dir wichtig ist, ständig Jahr um Jahr nach hinten schieben wie die Eröffnung des Berliner Flughafens. Wenn du nicht bald anfängst, das Leben zu führen, das du führen willst, bist du tot. Und hast dein Leben versäumt.
Bestandsaufnahme: Bin ich unglücklich? Nein. Ich weiß schon, was ich habe. Viel. Tolle Kinder, die, als sie klein waren, dem Leben von allein unendlich viel Sinn gaben. Jetzt sind sie groß, und ich habe immer noch viel: tollen Mann, anständigen Job, schöne Wohnung. Wollte ich ja alles. Unverschämtes Glück obendrein, weil ich nicht in Nordkorea oder Afghanistan lebe, sondern im schönen, reichen, friedlichen Oberbayern. Kann man gar nicht oft genug betonen. Dabei wäre es keine Kunst, mein Leben anders zu erzählen: hetzen, rennen, keine Zeit, Ärger schlucken, nett sein, funktionieren, Hamsterrad. Trotzdem nur die Hälfte geschafft, abends erschöpft ins Bett, Wecker auf halb sieben, und morgen alles von vorn. Beklagt ja fast jeder. Dafür war der Urlaub schön, und gestern hat tatsächlich einer über meinen Witz gelacht. Ist es das? Es gibt einen Satz in Schillers Don Carlos, der mich verfolgt: »23 Jahre, und nichts für die Unsterblichkeit getan!« Ich bin mehr als doppelt so alt. Mein Leben läuft vor mir ab, und ich habe das Gefühl, ich bin gar nicht dabei.
Ich erkenne meine Feinde im Dunkeln. Sie heißen Larmoyanz und Dekadenz. Einem syrischen Flüchtling, einer Mutter mit krebskrankem Kind muss ich von meinen Zweifeln nicht erzählen. Obwohl ich also weiß, dass es mir nicht nur gut, sondern wahrscheinlich besser geht als 95 Prozent der Menschheit, bin ich nicht froh. Man kann nun leicht sagen: Was will die denn noch? Kriegt die den Hals nie voll? Man kann aber darauf antworten, dass die Fragen »Wer bin ich?« und »Wohin gehe ich?« zur DNS des Menschseins gehören, die an Bedeutung gewinnen, wenn es den Menschen gut geht, und keinen interessieren, wenn nur das schiere Überleben zählt.
Vielen, die älter sind als dreißig in diesem Land, geht es gut. Und darum knallt bei den meisten von ihnen die Frage, ob sie das Gefühl haben, ihr eigenes Leben zu versäumen, direkt in den Bauch, ohne Umweg übers Hirn. Denn erwachsen zu sein hat seinen Preis. Erwachsen sein heißt akzeptieren, dass sich Türen hinter und neben einem schließen, die Wahlmöglichkeiten weniger werden und es Entscheidungen gibt, die unumkehrbar sind: Wer ein Kind hat, kann nicht mehr beschließen, keines zu haben.
Wenn der Alltag zum Allesfresser wird, kommt der Augenblick, in dem wir diese Türen wehmütig in Gedanken immer wieder durchschreiten, als stünden sie noch offen, wie damals, als der eigene Tod so absurd weit weg und wir überzeugt waren, die Welt würde darauf warten, umarmt zu werden. Polizistin oder Architektin, Hamburg oder Haiti, Rasta oder Glatze, das war kein Entweder-Oder, sondern ein Sowohl-als-Auch.
Zeit genug, das Ruder herumzureißen
Irgendwann aber kommt zum ersten Mal dieser gemeine, schmerzhafte Moment, in dem einem bewusst wird, dass bereits mehr Türen geschlossen wurden, als noch geöffnet werden können. Die Pfähle sind eingerammt, die Weggabelungen werden seltener. Das Leben könnte nun weiter vor sich hinplätschern, es lebt sich quasi von allein, weil alle wesentlichen Entscheidungen schon gefallen sind. Man könnte auf dieser Straße, die gut zu teeren man sich viele Jahre alle Mühe gab, ohne Anstrengung weiterwandern, sie böte einem Annehmlichkeiten am Wegesrand, mal eine unvermutete Kurve, vielleicht auch Stolpersteine, aber im Grunde kennen wir das Ende der Straße längst: unseren Tod. Es bleibt ein Ausweg – die Gedanken. In dieser geheimen Sehnsuchtswelt, in der man sich nicht festlegen muss, ist man frei, man kann so tun, als lägen die Jahre vor einem wie saftige Frühlingswiesen, und der Tod hätte seinen Namen in Unsterblichkeit geändert.
Aber halt, noch aber wäre ja auch in der Wirklichkeit Zeit genug, das Ruder herumzureißen, dem Leben Höhepunkt um Höhepunkt aufzusatteln, Hasardeur zu werden oder Rennfahrerin, irgendwas. Schreien möchte man in den Nachthimmel: »Ich bin so wild auf Leben! Morgen fange ich damit an!« Schnitt – und Ende. Das war’s dann meistens mit dem großen, mutigen Vorsatz. Jetzt braucht der Hund erst mal Futter.
Als noch die meisten Menschen an Gott glaubten, war ihnen mindestens eines sicher: Das Leben ist die Generalprobe, und mag sie noch so schiefgehen, die Premiere kommt sicher. Und wird wunderbar. Nach dem Tod nämlich, im Himmel, da beginnt erst das wahre, das unvorstellbar schöne Dasein. Das war ein großer Trost für viele, die keine andere Wahl hatten, als das Leben zu führen, das ihnen qua Geburt vorgeschrieben war und aus dem es kein Entrinnen gab. Der moderne Mensch aber will das schöne Leben auf Erden führen, er ist überzeugt, nur dieses eine zu haben. Bloß, wann fängt das wirkliche, das selbstbestimmte Leben an? Wenn die Kinder aus dem Haus sind und der Hund tot? Und würde man den Zeitpunkt überhaupt merken, wenn sich die Chance dafür böte? Und würde man sie ergreifen?
Die Antwort lautet mit ziemlicher Sicherheit: Nein. All die Wahlmöglichkeiten, Multioptionalität genannt, die jeder heute hat, sein Leben selbst zu designen, haben auf eine menschliche Eigenschaft anscheinend keinen Einfluss: die Angst vor Veränderung. Längst gehört es zu den Gewissheiten der Psychologie, dass der Mensch sich selbst dann nicht ändert, wenn es ihm schlecht geht, wenn er leidet und weiß, dass er handeln müsste. Die Frau, die oft von ihrem Mann geschlagen wird und ihn doch nicht verlässt, ist das vielleicht bekannteste Beispiel. Noch größer als die Angst, geschlagen zu werden, ist die Angst, etwas Neues zu beginnen. »Alles, was ich kenne, gibt mir ein Gefühl von Vertrautheit und Sicherheit«, schreibt die Psychotherapeutin Sara Malik, »selbst dann, wenn es mich unzufrieden oder gar unglücklich macht. Weil ich weiß, wie ich handeln muss. Und niemand kann mir garantieren, dass es anschließend besser wird. Es könnte ja noch schlechter werden.«
Es gibt Experimente, die eindrücklich zeigen, dass es uns mehr schmerzt, den schlechten Job zu verlieren, als den guten zu verpassen. Lieber ein bekanntes Leiden als ein unbekanntes Risiko. Die Angst vor Veränderung ist immer auch ein Schutz vor Enttäuschung.
Trotz allem, die Wirklichkeit kennt jene, die ihr Leben nicht verschoben, sondern radikal geändert haben, die ihrer Bestimmung gefolgt, ihren Weg gegangen sind: Bruder Klaus verließ Frau und zehn Kinder, um in der Schweiz das Leben eines gottesfürchtigen Einsiedlers zu führen, Paul Gauguin Frau und fünf Kinder, um sich auf Tahiti ganz der Malerei zu widmen. Zum Glück für Gott und die Kunst, zum Schrecken ihrer Familien. Fidel Castro und Che Guevara kämpften mit zeitweise nur zehn Guerilleros gegen das kubanische Regime und schafften das Unvorstellbare: 1959 riefen sie in Kuba die Revolution aus. Dann aber nahmen sie Rache und ließen Hunderte von Soldaten des alten Regimes hinrichten.
Der Österreicher Michael Glawogger, einer der prägenden Dokumentarfilmer unserer Zeit, starb vor zwei Jahren elendiglich an Malaria auf dem Hangar eines Flughafens in Liberia, auf seiner einjährigen Reise durch Afrika, die ein ungewöhnliches Ziel hatte: den Film zu machen, der ihm unterwegs erst passieren sollte. In seiner Todesanzeige stand auf der Vorderseite: »Life is what happens while you are busy making other plans.« Dann, mit großem Abstand darunter: »Death is, too.« Und auf der Rückseite: »Er hatte die Kraft für ein Leben nach seinem Willen. Nur das wird uns die Zumutung seines Todes ertragen lassen.« Da ist die Sehnsucht, dass jemand so etwas auch auf meine Todesanzeige schreiben könnte. Und dann wieder nicht. Denn der Preis für all die Kraft und den Willen und die Unabhängigkeit ist eben auch die Zumutung für die, die zurückbleiben. Man glaubt förmlich, die Blutspur zu sehen, die all jene nach sich ziehen, die den großen, den radikalen Weg gegangen sind. Ist es das wert?
Nur mal angenommen, ja. Ich wüsste ja nicht mal, was ich wollen würde, außer dünn sein. Mit 25 konnte ich meine Träume immerhin benennen, eine große Schauspielerin wollte ich werden, dann Kriminalpsychologin, dann ein gebildeter Mensch, der um die Erde reist, historische Stätten und Museen von Weltrang besucht, sich Lehrer nimmt, um Sprachen zu lernen, die klassische Musik und die große Literatur zu begreifen. Ziemlich naiv. Wenigstens das mit dem Theater habe ich in Angriff genommen, hat aber nicht geklappt, es mangelte an Talent. Den Traum von der Kriminalpsychologin ließ ich mir von einem Fachmann in sieben Minuten ausreden. Für die allumfassende Bildung hätte ich viel Geld gebraucht. Da dachte ich, vielleicht zum ersten Mal: Dann machst du es halt später. Wenn jetzt später ist, hätte ich immer noch nicht das Geld dafür. Aber jetzt, wo ich das hinschreibe, beutelt mich wieder die Begierde. Ausbrechen, heimlich verschwinden, der Bestimmung folgen. Ihr Lieben, macht euch keine Sorgen um mich: Ich lebe: jetzt! Ich melde mich. Vielleicht.
Nur, was täte ich dann? In Südamerika Pferde bereiten? In Südafrika Aidswaisen unterrichten? Auf Bali am Strand sitzend »Om« summen? Im Weserbergland Heilkräuter züchten? Das hat mit mir nicht das Geringste zu tun. Es klappt ja schon vier Nummern kleiner nicht. Nach Berlin, nach Wien würde ich gern ziehen. Das würde ich irgendwie hinkriegen. Nur müsste ich dann mit meinem Mann, der von hier nicht weg kann, skypen. Der Preis ist zu hoch.
Es bleibt der Neid auf jene, die ein großes, ein eindeutiges Talent besitzen, das sie beackern können, im Sport, in der Kunst, in der Pädagogik, ganz egal, weil es ihnen die Richtung vorgibt, die ihr Leben nimmt. Ich aber verfüge, wie so viele, nur über Wald- und Wiesentalente. Kann froh sein, dass man mich nicht wie vor hundert Jahren mit irgendeinem Mann verheiratete, sondern mir eine Ausbildung mitgab und den Auftrag: Mach was draus, die Welt steht dir offen. Das ist gut und es ist furchtbar. Ich bin der Feind in meinem eigenen Leben. Brav und ängstlich.
1993, gut 17 Jahre nach seiner Titelgeschichte über die Midlife-Crisis des Mannes, berichtete der Spiegel, wie es den Männern ergangen war nach der Krise in ihrer Lebensmitte. Die meisten hatten sich arrangiert und Dinge gefunden, aus denen sie ihre Selbstbestätigung schöpfen konnten: die Familie, ein Hobby – und besonders häufig das Golfspiel.
Bitte, nein, so will ich nicht enden. Was aber bleibt, ist diese ungeheure Sehnsucht. Und ich weiß nicht, wohin mit ihr. Drum höre ich jetzt auf. Und weine in mein Kissen. Und keine Sorge: Morgen bin ich wieder die nette, die anständige, die funktionierende Susanne. War was?