Am 18. Oktober 1997 steht Beverly Dollarhide in der Ankunftshalle des Flughafens in San Antonio, Texas, um ihren vermissten Sohn in die Arme zu schließen. Nicholas war 13, als er im Juni 1994 am Abend nicht vom Spielen nach Hause kam. Die Polizei hatte die Suche längst aufgegeben, als sich im Herbst 1997, mehr als drei Jahre nach seinem Verschwinden, die US-Botschaft in Madrid bei Beverly Dollarhide meldete. Nicholas sei in Spanien aufgetaucht, es gehe ihm gut. Er habe nur einen Wunsch: Er wolle nach Hause. Sie spricht kurz mit ihm am Telefon. Dann steigt er ins Flugzeug.
Beverly Dollarhide kann es kaum glauben. Wie kommt ihr Sohn nach Spanien? Was ist ihm zugestoßen?
Als er in Texas landet, verlässt er das Flugzeug als einer der letzten Passagiere. Er trägt eine blaue Baseballmütze, einen dicken Mantel und verdeckt sein Gesicht mit einem Schal und einer Sonnenbrille. Beverly Dollarhide will ihren Sohn umarmen, doch er zuckt zusammen. Er redet kaum. Irgendwas stimmt hier nicht.
Nicholas erzählt eine unglaubliche Geschichte: Er sei entführt und in ein Kinderbordell nach Europa verschleppt worden, wo er jahrelang missbraucht und in einem dunklen Raum gefangen gehalten worden sei. Nur durch Zufall sei ihm die Flucht gelungen.
Als kleiner Junge war Nicholas temperamentvoll und lustig, jetzt spricht er wenig, und wenn, hat seine Sprache einen seltsamen Akzent. Nicholas kann alles erklären: Seine Peiniger hätten ihn jedes Mal verprügelt, sobald er Englisch sprach – nur Französisch hätten sie geduldet. Deswegen sei er so scheu, ganz anders als der kleine blonde Strahlemann, der Nicholas einmal war.
Das FBI ermittelt wegen Kindesentführung, der Druck ist enorm. Eine Bande, die Kinder in Texas entführt und als Sexsklaven nach Europa bringt? Das hat es noch nie gegeben. Doch Nicholas verstrickt sich in Widersprüche. Die Agentin Nancy Fisher, die ihn damals verhört hat, beschreibt ihn als »sehr verschlossen«. Er gebe sein Wissen über seine Peiniger nicht preis und neige zu Wutausbrüchen. Das FBI beauftragt Psychiater und einen sprachwissenschaftlichen Gutachter, der das seltsame Englisch von Nicholas untersuchen soll. Ihr Ergebnis: Dieser Junge ist kein Amerikaner. Er lügt.
»Wir glauben, dass dieser Junge nicht Ihr Sohn ist«, sagt die FBI-Agentin ein paar Wochen nach Nicholas Rückkehr.
»Ich lasse mir mein Kind nicht noch mal nehmen«, antwortet Nicholas Mutter. Mit den Behörden will sie nichts zu tun haben. Sie war früher heroinsüchtig und lebt in einer Wohnwagensiedlung am Stadtrand von San Antonio, Texas.
Fünf Monate nach Nicholas Rückkehr nimmt Nancy Fisher seine Fingerabdrücke und schickt sie an Interpol. Treffer in der Datenbank. Der Junge ist ein gesuchter Hochstapler namens Frédéric Bourdin, der sich seit Jahren als hilfsbedürftiger Jugendlicher ausgibt, um sich in Kinderheime und Pflegefamilien einzuschleichen. Er ist kein Amerikaner, sondern Franzose. Und er ist nicht 16, sondern 23. Bei seiner Verhaftung lächelt er und zeigt den Kameras ein Victory-Zeichen.
Die Geschichte ist eine Sensation, Reporter aus aller Welt stürzen sich auf den Fall. Ein Fernsehteam von France 2 besucht Bourdin in den USA im Gefängnis, der Bericht läuft in Frankreich zur besten Sendezeit. Wie hat Bourdin es nur geschafft, sich als Amerikaner auszugeben? Er gibt alles zu. Von Spanien aus hat er beim US-Zentrum für vermisste Kinder angerufen und sich als Leiter eines Kinderheims vorgestellt, in dem ein verwirrtes Kind aufgetaucht sei. Er fragte: Gibt es jemanden in Ihrer Datenbank mit folgenden Merkmalen? Dann beschrieb er sich selbst: Lücke zwischen den Schneidezähnen, etwa 1,70 Meter groß, schmächtig. Die Frau bei der Behörde gab die Kennzeichen in ihren Computer ein – und war plötzlich ganz aufgeregt: Ja, so einen Junge gebe es, vermisst in Texas. Sein Name: Nicholas Barclay. Mehr Informationen brauchte Frédéric Bourdin nicht. Er rief die zuständige Polizei in Texas an, gab sich wieder als Heimleiter aus Spanien aus und sagte: Ich habe gute Nachrichten, neben mir steht Nicholas Barclay. Wenig später saß Bourdin im Flugzeug nach Texas.
Er zeigt den Reportern eine Tätowierung auf seinem rechten Unterarm. Caméléon nantais steht dort, das Chamäleon aus Nantes. Es ist der Spitzname, den er sich selbst gab, als er ein Teenager war, später haben die Medien den Namen aufgegriffen. Denn er passt: Bourdin beherrscht, ähnlich wie das Reptil, zwei Dinge meisterhaft – die Verwandlung und das Anpassen an seine Umgebung.
Die getäuschte Mutter Beverly Dollarhide sagt: »Vermutlich hatte die Hoffnung mich ausgetrickst. Ich wollte Nicholas so sehr zurück, dass ich blind war.«
Im Februar 1999, ein Jahr nach Bourdins Verhaftung, sitzt ein Mädchen namens Isabelle Clerc in Cannes wie gebannt vor dem Fernseher und verfolgt jedes Wort von Bourdins Geschichte. Sie ist 17 Jahre alt und von einer tiefen Traurigkeit befallen. Ihr Vater hat Isabelles Mutter im Suff oft verprügelt, auch sie hat Schläge abbekommen, aber immer geschwiegen. Isabelle ist gut in der Schule, brav und nett, aber in ihr brodeln Fragen: Was bin ich wert, wenn nicht mal mein Vater mich liebt? Wofür soll ich weiterleben?
Der Hochstapler im Fernsehen wirkt anders als sie. Selbstbewusst. Obwohl er zwischen drei Aufpassern im Gefängnis sitzt, verurteilt zu sechs Jahren Haft wegen Meineides und illegaler Einreise in die USA, grinst er wie ein Schuljunge nach einem gelungenen Streich. Er erzählt den Reportern von seiner Kindheit in einer kaputten Familie. Seine Mutter Ghislaine hat ihn demnach als 18-Jährige bekommen, den Vater, einen Gastarbeiter aus Algerien, hatte sie in der Margarinefabrik kennengelernt, in der beide am Fließband standen. Sie verlässt ihn noch vor Frédérics Geburt. Weil seine Mutter überfordert ist, wächst Frédéric bei seinen Großeltern auf, in einem katholischen Dorf in der Nähe von Nantes. Als unehelicher Sohn eines Arabers ist er ein Außenseiter. Sein Großvater schimpft über Schwarze und Ausländer, seinen Enkel nennt er »Abschaum« und »Schande für die Familie«. Ein Onkel schlägt ihn immer wieder, mit 14 landet Frédéric Bourdin im Kinderheim.
Warum gibt sich ein Mensch als jemand anders aus, fragt sich Isabelle. Will er Geld, Ruhm, etwas Besseres sein? Spektakuläre Fälle von Hochstapelei landen immer wieder in den Medien, oft geht es um Menschen, die als Ärzte, Anwälte oder Lehrer auftreten, ohne je eine Universität besucht zu haben. Ihre Motive sind fast immer gleich: Anerkennung, manchmal Geld.
Frédéric Bourdin zögert, als die Reporter ihn fragen, warum er sich als Nicholas Barclay ausgegeben hat. Dann sagt er etwas, was Isabelle nie mehr vergessen wird: »Alles, was ich will, ist ein normales Leben. Mutter, Vater, Geschwister, ein Zuhause, zur Schule gehen. Ich bin Tausende Kilometer gereist, nur weil ich wollte, dass mich jemand liebt.« Ohne Liebe könne niemand leben. »Zur Not muss man sie eben stehlen.« Isabelle Clerc denkt: Ich kann ihm die Liebe geben, die er braucht.
Für Bourdin gibt es zweierlei Menschen. Solche, die Glück haben und geliebt werden, ohne dass sie etwas dafür tun müssen. Und dann gibt es Menschen wie ihn, die sich die Liebe verdienen müssen, egal wie. Seit er 16 war, ist Bourdin in Rollen geschlüpft wie in Jogginghosen. Er nannte sich Benjamin Kent, Arnaud Orions, Giovanni Petrullo, Sladjan Rascovic, aber seine Masche ist immer gleich: Er gibt sich als misshandeltes Kind aus, das von zu Hause weggelaufen ist. Sein Ziel: in ein Kinderheim aufgenommen zu werden, wo die Leute sich um ihn kümmern. Seine größte Hoffnung ist eine Gastfamilie, die ihn adoptiert. Mehr als 300 Identitäten will er angenommen haben, bei zehn Jahren wäre das im Schnitt eine alle zwei Wochen. Er lebt in Italien, Spanien, England, in Deutschland nennt er sich Jimmy Sale und wird in ein Heim in der Nähe von Kaiserslautern gebracht. Oft bleibt er wochenlang in einem Kinderheim, bevor sein Schwindel auffliegt. Manchmal gibt er sich selbst zu erkennen, weil ihm das Heim nicht gefällt. Dann kommt die Polizei. Die Begriffe »Richter« und »Kriminalpolizei« kann er auf Deutsch akzentfrei aussprechen, so oft hat er sie gehört. Meistens lassen die Polizisten ihn laufen. Warum sollen sie sich abmühen mit einem Straßenkind, das ständig lügt? Oft nehmen sie nur seine Fingerabdrücke und bringen ihn aus der Stadt. Dann zieht er weiter, erfindet eine neue Geschichte, und alles beginnt von vorn.
»Du kennst mich nicht, aber ich schulde dir Dank. Denn durch dich habe ich gelernt, dass man ohne Liebe nicht leben kann.«
In Ländern, deren Sprache er nicht beherrscht, gibt er sich als taubstumm aus. Und er lernt schnell, sein Spanisch und sein Italienisch sind bald gut genug, um sich gegenüber Nicht-Muttersprachlern als Spanier oder Italiener auszugeben. Im französischen Ort Pau, wo Frédéric Bourdin unter dem Namen Francisco Hernandez Fernandez einen Monat für ein Kind aus Spanien gehalten wird, schreibt ein Polizist in seine Akte: »Wenn er Spanisch sprach, wurde er zum Spanier, wenn er Englisch sprach, zum Engländer.« Ein französischer Staatsanwalt nennt ihn »einen unglaublichen Verwandlungskünstler, dessen Gestörtheit nur noch durch seine Intelligenz übertroffen wird«.
In den USA sitzt er zum ersten Mal länger im Gefängnis. 2003 wird er entlassen und nach Frankreich abgeschoben. Wenige Wochen später gibt er sich erneut als vermisstes Kind aus, mit fast dreißig. Er ist wie ein Süchtiger, der nicht aufhören kann. Er wird wieder verhaftet, kommt frei, wird verhaftet.
Zu dieser Zeit hat Isabelle Clerc ihre kaputte Familie verlassen und studiert Jura an der Sorbonne in Paris. Sie hat das Leben von Frédéric Bourdin aus der Ferne verfolgt, jeden Artikel über ihn aus der Zeitung geschnitten und oft an seinen Satz über die Liebe gedacht, die man zur Not stehlen müsse. Es kommt oft vor, dass Frauen sich in Straftäter verlieben. Manche denken, man könne die armen Kerle retten, wenn man sie anständig behandelt. Aber bei Isabelle ist es anders: Sie hat das Gefühl, Bourdin zu verstehen, als einer der wenigen Menschen überhaupt. Im Herbst 2006 schreibt sie ihm eine E-Mail: »Du kennst mich nicht, aber ich schulde dir Dank. Denn durch dich habe ich gelernt, dass man ohne Liebe nicht leben kann.«
Frédéric Bourdin bekommt viele E-Mails, in Frankreich hat er es durch Fernsehauftritte zu Bekanntheit gebracht. Er betreibt einen Blog und schreibt über seinen Alltag. Aber die meisten Menschen interessieren sich nur für seine Rollen. Die Mail von Isabelle ist die Erste, in der es nur um Frédéric Bourdin geht und nicht um Nicholas Barclay, Benjamin Kent, Sladjan Rascovic und wie seine Figuren alle hießen. Sein erster Gedanke: Diese Frau will mir schaden. Vielleicht eine Journalistin, die sich einen Scherz erlaubt? Er sieht die Schlagzeile schon vor sich: »Wie ich das Chamäleon reinlegte«. Trotzdem schickt er ihr seine Telefonnummer. Sie telefonieren fast jeden Tag.
Im Juli 2007 treffen Sie sich zum ersten Mal. Sie verabreden sich in Laruns, einem kleinen Dorf in den Pyrenäen, in dem Bourdin lebt. Er ist mittlerweile fast 32 und hat aufgehört, sich als vermisstes Kind auszugeben, teils weil er zu alt dafür wurde, teils weil ihn Polizisten auf der Straße erkennen, weil er so oft im Fernsehen war. Er lebt mit seiner Katze in einer kleinen Wohnung. Dort zeigt er Isabelle eine DVD mit einem Konzert von Michael Jackson und macht die Bewegungen des Sängers perfekt nach. Dann lacht er schüchtern. Isabelle Clerc sagt: »Ich mag dich so, wie du bist.« Aber Bourdin hat sich so oft verstellt, dass er gar nicht mehr weiß, wie das geht: so sein, wie er ist. Er hat Angst, dass Isabelle bald weg ist und nie mehr wiederkommt.
Sie fährt zurück nach Paris. Isabelle fragt am Telefon: Bekommst du eigentlich nie Besuch von Freunden oder Familie? Er antwortet: »Nur einmal. Sie hieß Isabelle.«
Sie besuchen einander immer wieder, über Monate. In Paris spazieren sie durch den Jardin du Luxembourg. Frédéric fragt Isabelle im Frühsommer 2007, ob sie seine Frau werden will.
Im August 2007 heiraten sie in Eaux-Bonnes, einem Dorf nahe der spanischen Grenze. Kurz vor der Trauung nimmt der Standesbeamte Isabelle zur Seite. Er hat die Kriminalakte von Frédéric Bourdin gelesen. Ob sie denn wisse, mit wem sie sich da einlasse? Sie sagt: »Ich liebe ihn nicht trotz seiner Vorgeschichte. Sondern genau deswegen.« Zur Hochzeit kommen nur sieben Gäste, einige davon kennt Bourdin aus dem Gefängnis. Verwandte kommen nicht. Isabelles Mutter sagt: »Du heiratest einen Kriminellen, du willst mich bestrafen!« Frédérics Mutter hält die Hochzeit für eine weitere Lüge ihres Sohnes und bleibt ebenfalls fern.
Frédéric und Isabelle ziehen zusammen, sie die Frau mit Abitur und Jura-Examen, er der vorbestrafte Schulabbrecher. Die erste Tochter Athena kommt im Mai 2008 auf die Welt, der Sohn Esteban ein Jahr später, 2010 wird Odyssée geboren und 2013 Isis. Der Mann, der sich nichts sehnlicher wünschte als eine Familie, ist nun Vater von vier Kindern.
Im November 2014 leben sie nun in einem kleinen Dorf in der Bretagne, am Westzipfel Frankreichs. Dort wollen sie keine Journalisten empfangen, weil die Nachbarn sonst stutzig werden könnten. Nicht jeder kennt die Vorgeschichte von Frédéric Bourdin. Darum treffen sie den Reporter des SZ-Magazins lieber in Nantes, drei Autostunden entfernt, hier ist Bourdin aufgewachsen. Sie kommen öfter in die Stadt, dann spazieren sie durch den Park des Kinderheims Les Grézillières, wo sein Leben als Chamäleon begann. Frédéric Bourdin trägt einen langen schwarzen Mantel und einen dünnen Oberlippenbart, er könnte in einem Bond-Film den Bösen spielen. Aber wenn er lacht, und er lacht oft, zieht sich sein Mund fast von Ohrläppchen zu Ohrläppchen. Isabelle trägt einen Wollmantel und eine selbst gemachte Kette aus Draht und bunten Perlen.
Sie leben von Gelegenheitsjobs. Frédéric Bourdin hat nach der Geburt der ersten Tochter im Telefonmarketing gearbeitet, da sollte er fremde Menschen anrufen, um ihnen teure Heizungsanlagen zu verkaufen. Er ist ein Naturtalent. »Ich weiß, was ich Menschen erzählen muss, damit sie tun, was ich möchte«, sagt er. »Aber ich will nicht mehr lügen.« Kann man einem verurteilten Hochstapler glauben? Isabelle sagt: »Er ist immer ehrlich zu mir gewesen, sonst wären wir nicht so lange verheiratet.« Sie ist schwanger. Ihr fünftes Kind soll im Sommer auf die Welt kommen. Dann will sie wieder arbeiten, sie hat sich um eine Stelle als Rechtsbeistand im Gefängnis beworben. Vielleicht bekommt sie den Job nicht, weil ihr Mann vorbestraft ist.
Bourdin hat einen Rucksack voller Fotoalben dabei, die Bilder seiner Vergangenheit. Die Kindheit in armen Verhältnissen, der Onkel, der ihn schlug. Bilder aus dem Gefängnis in Amerika, wo er einen Schulabschluss nachholte. Die Hochzeit. Die Geburt der Kinder. Niemand spricht es aus, aber die Bilder sollen als Beweis dienen: Seht her, all das gibt es wirklich, ich habe es mir nicht ausgedacht!
Bourdin redet ungern von früher, seine Zeit als Chamäleon ist ja vorbei. Aber eine Frage bleibt: Was hätte er gemacht, wenn der vermisste Nicholas Barclay plötzlich aufgetaucht wäre, als Bourdin in dessen Familie wohnte? »Anfangs war das meine größte Sorge«, sagt er, »aber ich kannte die Statistiken. Kinder, die mehr als drei Jahre vermisst sind, kommen fast nie zurück.« Das US-Magazin The New Yorker hat den Fall des verschwundenen Nicholas Barclay akribisch recherchiert. Der Verdacht: Die Familie ist schuld am Verschwinden des Jungen und hat die Tat vertuscht. Als dann plötzlich ein Fremder daherkam, der behauptete, ihr vermisster Sohn zu sein, schien das Alibi perfekt. Ein älterer, zu Gewaltausbrüchen neigender Halbbruder namens Jason hatte Streit mit Nicholas, bevor dieser verschwand. Und genau dieser Halbbruder wurde kurz nach einem Verhör durch das FBI, das nach der Enttarnung von Bourdin ebenfalls fragte, was denn mit dem echten Nicholas Barclay geschehen war, tot aufgefunden. Überdosis Drogen. Vermutlich Suizid.
Ein Privatdetektiv namens Charlie Parker ermittelt bis heute. Er hat in San Antonio nach der Leiche von Nicholas gegraben – bisher vergeblich. »Ich vermute, Jason steckt hinter dem Verschwinden«, sagt er, »und die Familie weiß mehr, als sie zugibt.« Wie sonst sollte eine Mutter einen Fremden so lange für ihren Sohn halten? Das FBI hat den Fall offiziell abgeschlossen, ein Verbrechen wurde der Familie nicht nachgewiesen. Nicholas Barclay gilt weiter als vermisst. Bourdin hat dem FBI nach seiner Verhaftung erzählt, dass Nicholas’ Mutter ihn angeschrien habe: »Du bist nicht mein Sohn, wer zum Teufel bist du?« Aber das FBI hat ihm nicht geglaubt. »Kann ich verstehen«, sagt Bourdin.
Am Abend in Nantes lädt er seine Familie zum Essen ein. Im Restaurant weist er jedem einen Platz zu: »Dort sitzt du, Odyssée, du bist meine Schlaue. Hier ist dein Platz, Esteban, du bist mein Racker.« Er hat für jedes Kind einen Kosenamen. Athena, die Große, fragt: »Und wer bist du, Papa?«
Bourdin überlegt kurz, dann antwortet er: »Ich bin einfach nur ich.« Man möchte ihm glauben.
Fotos: Stephanie Füssenich