An einem hellblauen Samstag im September vor sechs Jahren bekam Marie* die Gewissheit, dass ihre Gefühle zwar unpraktisch, aber groß waren. Und dass sie von jetzt an nichts mehr gegen sie tun würde. Wir feierten die Hochzeit von Freunden auf einer Wiese über Dresden. Marie hockte auf einer Bank und sah dem Brautpaar zu, das für seine Hochzeitsfotos posierte. Sie war am Vorabend aus Griechenland angereist. In der Hafenstadt Patras drehte sie einen Dokumentarfilm über Jugendliche, die aus Afghanistan und dem Iran geflohen waren, ihre Rettungsboote hatten sie dann nach Griechenland getrieben.
Sonnenlicht floss durch die Baumkronen und tanzte auf Maries Gesicht. Sie strahlte, das passte nicht zu den harten Geschichten der jungen Männer, die sie erzählte. Sie hatten ihre Familien verloren. Sie kochten am offenen Feuer und schliefen unter Brücken. Sie prügelten sich, wurden von Schmugglern verprügelt und von der Polizei, und ihr einziges Ziel war der Versuch, sich in Patras unter Lastwagen festzukrallen, um weiter nach Mitteleuropa zu kommen.
Aber das Lächeln blieb auf Maries Gesicht. Sie war sternhagelverknallt. In einen der Jungs aus ihrem Film: Rashid, Afghane, ohne Pass, seit vier Jahren in Griechenland. Ein paar Monate lang hatte sie das Gefühl weggedrückt. Sobald sie aber ihr Verliebtsein andeutete, anderen davon erzählte, sah sie Aufregung in den Gesichtern ihrer Freunde. Wie sollte das alles gehen? Selbst Rashid rechnete ihr vor, wie schwierig eine Beziehung wäre: Sprachhürden, kulturelle Differenzen, die Verantwortung, die sie für ihn hätte, wenn er zu ihr nach Deutschland käme. Wie soll das eine Beziehung aushalten?
Und Marie hielt noch etwas anderes zurück: Sie wollte, durfte sich als Dokumentarfilmerin nicht in einen Protagonisten des eigenen Films verlieben. Sie könnte Rashid ausnutzen, sagte Marie. Er könnte sich ausgenutzt fühlen. Sie hatte Schuldgefühle. In dieser Gedankenschleife hing sie damals in Dresden fest. Sie sah der Braut zu, die im weißen Kleid über dem Boden schwebte. Alle kannten sich, mochten sich, die Gäste passten gut zueinander. Wie wahrscheinlich würde eine solche Hochzeit für Marie und Rashid sein? Was würde sie zusammenhalten, wovon würden sie leben? Er, der Flüchtling, und sie, die Dokumentarfilmerin, deren Arbeit sie zwar ausfüllt, aber kaum finanziert. Aber es spielte keine Rolle. Es durfte keine Rolle spielen. Sie hätte Rashid ja auch irgendwo anders kennenlernen können. Beim Wandern. Auf einer Party. In Patras auf der Straße, wo er in einer Gruppe von Kumpels herumstand und hinter seiner düsteren Fassade doch auch immer diese Wärme glomm. Die Folge wäre die gleiche: Man verliebt sich, dann schaut man eben. So ist das Leben.
Marie brachte sich in Position, den Brautstrauß zu fangen. Ob sie daran dachte, Rashid zu heiraten? Würde sie dadurch die Geschichte nicht vereinfachen? Marie lachte über die Frage. Heiraten! Rashid hatte nicht einmal irgendeine Staatsbürgerschaft. Wie sollte er nachweisen, ledig zu sein? Als sie aus Dresden nach Patras zurückkam, wusch Rashid in der schmutzigen Küche des Filmteams das Geschirr ab und sah zu ihr. Er sagte in gebrochenem Englisch: Ich kann nicht mal deine Sprache. Sie: Du kannst kochen. Er: Wovon leben wir? Sie: Wird sich finden. Er: Wirst du glücklich sein? Sie: Bin ich schon. In seinen Augen sah Marie Verzweiflung, aber auch Entschlossenheit.
Vertrautheit bestand ohnehin zwischen ihnen. Sie beschlossen nur, das Gefühl zu ordnen: Sie entschieden, ein Paar zu sein. Nähe gaben sie einander über Facebook, den ersten Kuss vier Monate später, im Dezember, als Marie wieder nach Griechenland flog. Während Marie dann in München ihren Film schnitt, erlebte Rashid eine wilde Flucht. 14 Mal wurde er erwischt, nach Griechenland zurückgeschickt, eingesperrt und wieder freigelassen. Nach einem Jahr erreichte Marie ein Anruf aus Österreich: Rashid war dort in einem Auffanglager. Noch eine Grenze zwischen ihnen. Sie hätte ihn mit dem Auto abholen können. Von München aus sind es wenige Stunden, aber: das Abkommen von Dublin. Das Asylverfahren. Die fehlenden Papiere. Marie hatte Angst, vielleicht zum ersten Mal. Er war nah. Aber wenn man sie an der Grenze erwischt? Was, wenn sie vor Aufregung die Kontrolle über das Steuer verliert? Sie wagte es nicht.
Es war Dezember, als sie einander wiedersahen. Neun Monate später bekam Rashid Bleiberecht in Deutschland. Sie zogen in eine Wohnung, klein, aber gemeinsam. Dann fanden sie einen Alltag: Rashid holte den Schulabschluss nach und lernte Deutsch, heute arbeitet er als Schneider. Maries Film wurde für einen Preis nominiert, sie begann die Arbeit am nächsten.
Wenn man Marie heute fragt, wie sie zueinander gefunden haben, sagt sie: Wie man sich eben verliebt. Es ist kompliziert. Geheiratet haben sie nicht. Sie haben einen Sohn. Er ist ein halbes Jahr alt und heißt Yunus. Wie der Junge aus dem Alten Testament, der im Bauch eines Wals den Sturm überstand. Dann spuckte ihn der Wal an Land, und der Sand unter seinen Füßen war warm.
(*Namen geändert)
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