Die Soziologin Eva Illouz, 50, lebt glücklich mit ihrem Mann und drei Söhnen in Jerusalem. Trotzdem erforscht sie seit Jahren, warum die Liebe im 21. Jahrhundert so irre kompliziert und anstrengend ist.
Das Buch hat alles, um Leser abzuschrecken: 467 Seiten, 517 Fußnoten, 300 Literaturhinweise, fast alle davon auf Englisch. Es beleidigt niemanden, enthüllt nichts, provoziert nicht und stellt nicht bloß, handelt weder von Oralsex noch von einem beschwerlichen Weg irgendwohin oder einer Krankheit, die man besiegt hat – trotzdem ist seine Autorin Eva Illouz gerade sehr gefragt: Frauenmagazine wollen Interviews, Feuilletonisten Rezensionsexemplare. »Auf der Messe in Frankfurt«, sagt die Pressefrau des Suhrkamp Verlags, »wird sie kaum eine freie Minute haben.«
Es muss mit dem Titel zu tun haben: Warum Liebe weh tut. Da kann jeder andocken und sich was anderes davon versprechen: die Leser ein paar Tipps gegen Liebeskummer, die Journalisten spannende Interviews und Beckmann, Maischberger, Kerner einen Gast, mit dem man endlich mal über das ganz große Ding, die Liebe und den Schmerz, palavern kann. Wenn das Buch in ein paar Tagen erscheint, werden einige von ihnen enttäuscht sein. Nicht weil es schlecht, sondern weil es so gut, so präzise, scharfsinnig und seriös ist, kein Populärwissenschaftsgedöns, kein Ratgeber in zehn Schritten, keine narzisstische Selbstentblößung – nein, Eva Illouz hat eine hochrelevante soziologische Studie abgeliefert. Sie selbst ist kein bisschen aufmerksamkeitssüchtig, eher diskret, scharfsinnig, schnell im Kopf, eine klassische Intellektuelle mit orientalischen Ohrringen und bequemen Schuhen, der man gut zureden muss, damit sie sich kurz fotografieren lässt, weil sie nicht einsieht, warum das wichtig sein soll, ein Bild von ihr, wo es doch um ganz was anderes, nämlich ein Thema, geht.
Eva Illouz, 50, ist Wissenschaftlerin und lehrt seit 20 Jahren als Soziologin und Anthropologin an der Hebrew University in Jerusalem. 2009 wurde sie von der Zeit unter die zwölf Intellektuellen weltweit gewählt, die das Denken der Zukunft entscheidend verändern werden. Sie hat in Princeton, Frankfurt, New York gelehrt, ein Jahr am Berliner Wissenschaftskolleg verbracht, studiert hat sie in Philadelphia und in Paris. Hier treffen wir sie, das Werk ist fertig, Illouz nützt die wenigen ruhigen Tage, um ihre Eltern in Neuilly zu besuchen, diesem schicken Pariser Vorort, in dem Sarkozy mal Bürgermeister war. Als Treffpunkt schlägt sie die »Brasserie Lorraine« vor und entschuldigt sich dafür, so was Schickes ausgesucht zu haben, aber es sei nun mal das einzige Restaurant, das sie in der Nähe ihrer Eltern kenne. Hinsetzen also, Tatar aus Fischen für 30 Euro bestellen, ein Glas Wein dazu und reden: über Marokko, wo sie 1961 als Tochter eines jüdischen Juweliers geboren wurde, bevor ihre Familie später nach Frankreich zog; über ihren Mann, der Professor für Ökonomie ist, ihre drei Söhne und ihr Lebensthema: die Liebe in der kapitalistischen Moderne, das Verhältnis zwischen Mann und Frau im 21. Jahrhundert, also im Grunde die Frage, warum alles so anstrengend, kompliziert und verwirrend ist, die Familie, die Treue, der Job, die Kinder, der Sex und der permanente Druck, glücklich zu sein, zu werden oder wenigstens zu scheinen.
Aber warum tut die Liebe denn nun weh? »Sie hat immer weh getan«, sagt Illouz, »aber heute tut sie es auf andere Art und Weise und aus anderen Gründen.« Dabei hat sie nicht für jeden Partikularschmerz eine Erklärung, aber wenn sie eine hat, dann eine neue, die sofort einleuchtet. Ihr Buch erlöst uns von dem Gedanken, dass wir selbst es sind, die dem Ideal der romantischen Liebe nicht mehr gerecht werden und zweimal in der Woche zum Psychoanalytiker rennen, um die eigene Unzulänglichkeit wegtherapieren zu lassen. Für Illouz ist der Liebesschmerz kein individuelles oder biologisches, sondern ein soziologisches Phänomen, also abhängig von den gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen wir leben:
Waren Partnersuche und -wahl im 19. Jahrhundert festen Ritualen unterworfen, sind wir heute frei von Konventionen, Mustern, Rollen – und hoffnungslos überfordert. »Früher«, sagt Illouz, »wurde das gebrochene Liebesversprechen geächtet, das war eine moralische Verfehlung«, heute sei es umgekehrt: Das Stehenbleiben, das Nichtentwickeln, die lausig betriebene Selbstoptimierung werden sanktioniert.
Wir haben eine Atmosphäre geschaffen, in der verbindliche Zusagen keinen Sinn mehr machen, was nichts daran ändert, dass wir uns wie verrückt nach ihnen sehnen. Ein Teufelskreis. Denn ausgerechnet die romantische Liebe – in der wir die Anerkennung fänden, nach der wir uns so sehr sehnen – steht unserem Streben nach Unverwechselbarkeit im Weg. Die Möglichkeit, aus einer unbegrenzten Zahl von Partnern auswählen zu können, wird wichtiger als die Wahl selbst – und wenn eine Beziehung scheitert, greift man nicht zur Pistole, sondern loggt sich bei der nächsten Flirtbörse ein. Neues Spiel, neues Glück – nicht nur der Finanzmarkt ist entfesselt, der Markt für Sex und Liebe ist es auch. Und wer sich doch mal bis zur Selbstaufgabe verliebt, ist nicht romantisch, sondern altmodisch und hysterisch.
»Männer werden für ihre Unverbindlichkeit nicht mal verdammt«
Wenn man Eva Illouz zuhört, erkennt man sich wieder und fühlt sich ertappt. Manchmal schaut sie auf, prüfend, ob man noch dabei ist, dann lächelt sie kurz und fährt fort – eine warme, charmante Frau, die Augustinus, Pierre Bourdieu, Søren Kierkegaard oder Sex and the City zitiert; eine Frau, die denkt, während sie spricht, und umgekehrt. Ihr Thema sind Gefühle, ihre Art zu schreiben ist sachlich. Sie analysiert Romane von Jane Austen bis Michel Houllebecq, scannt Frauenzeitschriften, Fernsehserien, Werbebroschüren, Internetprofile. Ihre Thesen verdeutlicht sie mit Auszügen aus Interviews, die sie mit Freunden, Kollegen, Freiwilligen geführt hat; entlarvende Passagen sind das, mit hohem Identifikationspotenzial: Eine 46-jährige Frau gesteht, dass sie ihre wahren Gefühle oft verbergen muss, aus Angst, ihr Freund könnte überfordert Reißaus nehmen. Ein 55-jähriger Professor gibt zu, dass seine Beziehungen immer gescheitert sind, weil die Frauen mehr wollten, als er zu geben bereit war, dass sie ihn emotional bedrängt und unter Druck gesetzt haben. »Eine Frau«, erzählt Illouz, »hat mir gebeichtet, dass sie seit drei Jahren einen Mann liebt, den sie noch nie im Leben gesehen hat.« Er lehnt es ab, sie zu treffen, trotzdem chattet sie jeden Tag mit ihm und ist glücklich, wenn sie morgens den Computer hochfährt und sieht, dass er online ist. »Wir sind verwirrt«, sagt Illouz, »wir sind so unsicher und verletzlich wie nie zuvor, weil wir unsere Position in der Welt ausschließlich aus uns selbst ableiten müssen«, eine Aufgabe, die komplett neu für uns ist.
Gefühle in Zeiten des Kapitalismus, Die Errettung der modernen Seele, Der Konsum der Romantik – so heißen ihre früheren Bücher, die in zehn Sprachen übersetzt wurden. In allen untersucht sie den Zusammenhang von Gefühlen, Massenmedien und kapitalistischer Konsumgesellschaft. »Als Teenager«, sagt sie, »habe ich mich gern schick gemacht. Irgendwann habe ich mich gefragt, warum ich es romantisch finde, bei Kerzenlicht zu einem Glas Champagner eingeladen zu werden, warum ich etwas emotional lieben und gleichzeitig rational durchschauen kann, warum wir also Luxusartikel brauchen, um romantische Gefühle zu empfinden«; damals ging es los, das Fragen und Suchen und Wundern über die vielen Widersprüche, an denen der moderne Mensch zu leiden hat: Warum träumen wir von Unabhängigkeit und vernetzen uns jeden Tag mehr? Warum kreisen wir nur um uns selbst, obwohl es die selbstvergessenen Momente sind, in denen wir Glück empfinden? Warum geben sich in gescheiterten Beziehungen meistens diejenigen die Schuld, die verlassen wurden? Warum streben wir nach Unverwechselbarkeit und werden einander jeden Tag ähnlicher? Warum stellen wir in Talkshows unsere Gefühle aus und verstecken sie im Alltag? Und warum fordern wir jeden Tag Gleichheit und unterdrücken uns gegenseitig, wo wir nur können. Illouz ist Feministin, keine ideologische wie Alice Schwarzer, eher eine sachliche, wenn es so was gibt, eine sachliche Feministin; auf jeden Fall hetzt und beschuldigt sie nicht, sondern analysiert, klar, präzise, überzeugend, man könnte auch so sagen: Wenn sie spricht, spürt man ihr Verständnis für die Nöte des modernen Mannes, der in seiner eigenen Freiheit gefangen ist. »Frei sein«, sagt Illouz, »kann nämlich auch bedeuten, gerade nicht endlose Wahlmöglichkeiten zu haben.«
»Wie immer meinem Mann und besten Freund«, lautete die Widmung in ihrem letzten Buch; trotzdem ist sie überzeugt davon, dass die moderne Mittelstandsfrau mehr denn je vom Mann emotional dominiert wird, ohne – und das ist wichtig – dass der Mann dies beabsichtigt. Es sei nun mal so, dass die Frau stärker an der Entkopplung von Sexualität und romantischer Liebe zu leiden habe. Sie ist zwar freier und unabhängiger als je zuvor, ihr Wunsch nach Familie, Kinder und häuslichem Glück aber besteht weiter. Während die Männer also noch mehr Möglichkeiten haben, Sex zu finden, Entscheidungen hinauszuzögern oder, wenn es zu anstrengend wird, die Frau auszutauschen, geraten die Frauen in ein kompliziertes Dilemma aus Freiheit, Zeitdruck und Ankommenssehnsucht. »Und die Männer«, sagt Illouz, »werden für ihre Unverbindlichkeit nicht mal verdammt oder verachtet. Oder finden wir George Clooney etwa weniger sexy und begehrenswert, nur weil er alle sechs Monate mit einer Neuen um die Ecke biegt?«
In Schoßgebete hat Charlotte Roche von einer therapiesüchtigen, traumatisierten, sexgeilen Frau voller Sehnsucht nach der ewigen Liebe erzählt. In Warum Liebe weh tut erklärt Eva Illouz, warum diese Frau kein Einzelfall ist. Am Ende wird das Buch wohl nicht vor Philipp Lahm oder Margot Käßmann auf der Bestsellerliste landen, dafür ist es zu ernsthaft, aber wer sich die Mühe macht, es zu lesen, wird anfangen zu verstehen. Er wird ahnen, dass gelungene Liebe kein Wunder ist, sondern auf Charakter basiert. Warum Liebe weh tut ist spannend wie ein Krimi, mit dem Unterschied, dass der Leser Seite für Seite darüber aufgeklärt wird, warum er selbst, im wirklichen Leben, Täter, Opfer oder beides zugleich ist.
Foto: David Bornscheuer