Sentimental und überfordert sind wir Zivilisationstrottel, sobald wir mit der »Natur« konfrontiert sind, der wilden, grausamen. Ich rede gar nicht davon, dass wir selber schlachten oder auch nur den geangelten Fisch eigenhändig erschlagen sollen; nein, mich persönlich brachte unlängst die blutige Anschaulichkeit des Wortes »Raubtier« schon reichlich aus dem seelischen Gleichgewicht.
Was war meine ganze Familie stolz auf das perfekte kleine Vogelnest, das ein emsiges Elternpaar – mithilfe des Tierbuchs flugs als »Waldbaumläufer« identifiziert – in unserem Garten bereitet hatte: kreativ in der hässlich-hellblauen Gardena-Halterung für den Gartenschlauch! Zeternd schossen die Eltern heraus, sobald man sich näherte; leider hängt der Schlauch direkt unter der Treppe, über die wir menschlichen Mitbewohner Bad und Bett erreichen. Ich machte mir sofort Sorgen über den Bruterfolg, der Rasen wurde deshalb aus Rücksicht nur selten gewässert; tagsüber benutzten wir die andere Toilette.
Es dauerte Wochen. Erst färbten sich die bläulichen Eier rötlich, dann lag da eine dunkle, nur durch die feinen orangenen Schnäbel unterscheidbare Masse von fünf Vögelchen, schnell atmend, lautlos, in hinreißender Beobachtungshöhe. Die Familie reiste ab nach Berlin, doch ich blieb, zum Schreiben.
Ich gestehe, wenn ich allein bin, spreche ich mit mir selbst. Ich spreche dann auch zu einem Vogelnest und zu den vom nächsten hohen Baum schimpfenden Vogeleltern sowieso. Ich muss ziemlich trottelhaft gewirkt haben, als ich mich eines Morgens, den Kaffeebecher in der Hand, rituell dem Nest näherte, »guten Morgen, ihr kleinen Vögelchen, wie geht es euch heute?«, dann verstummte, stehen blieb und gefühlt Minuten brauchte, um zu begreifen, was geschehen war. Kein Nest mehr. Nur noch, und das war der erste Schritt zur Erkenntnis, ein einzelner nackter Vogelhintern zwischen wurzelartigen Vogelbeinen, auf bekannte Weise bebend atmend, direkt auf dem blauen Plastik. Geschockte Blicke rundum. Das Nest Meter weiter in der Wiese, nebst zweier Leichen, bereits schwarz von den verlässlichen, emotionslosen Ameisen. Nur zwei. Die anderen beiden? Vermutlich im Magen des Verbrechers … Katze! Die Katze aus der Nachbarsiedlung! Schon x-mal von anderen des Vogelmords bezichtigt! Oder wer sonst? Ein Marder? Alles war spur- und geräuschlos verlaufen. Oben, neben meinem Bett, lag Sherlock Holmes von Arthur Conan Doyle, geliebte Kindheitslektüre. Das half hier auch nicht weiter.
Hier half nur die Nachbarin, von der es heißt, sie nehme Vogelbabys unerschrocken in die Hand. Ich konnte das nicht, noch nicht. Das Nest wird also aufgehoben und zurückgelegt, der einzige Überlebende, den es wider alle Wahrscheinlichkeit noch in der schützenden Aufhängung herausgefegt haben muss, wird unverletzt wieder hineingesetzt. Autorin, empört und den Tränen nahe, bezieht, statt zu schreiben, Beobachtungsposten im Garten. Stoßgebete an die verschwundenen Vogeleltern, die sich aber nicht erfüllen. Vielleicht sind sie auch tot.
Dann läuft der sentimentale Autopilot an. Man stöbert in der Küche. Man kocht einen Esslöffel Müsli mit einer vielfachen Menge Wasser auf und traktiert das Ganze dann mit dem Pürierstab. Man findet im Arztkoffer des jüngsten Kindes eine Spritze, vorne etwas zerbissen, aber besser als nichts. Man steht etwa fünfzehnmal in rückenschädigender Haltung vor der Schlauchhalterung und fiept und piept und macht Schmatzgeräusche. Das Vogelkind reißt zwar den Schnabel auf, aber immer zu kurz für einen Treffer. Dann öffnet es den Schnabel eine Weile gar nicht mehr. Gibt es auf? Ob es schon stirbt? Ich gehe deprimiert zurück an den Computer. Ich soll hier schreiben, und nur Meter neben mir stirbt ein Vogelkind! Ich packe die Spritze und eile zurück. Ich flehe es an. Ich fiepe und piepe. Am Nachmittag gelingt es plötzlich. Brei in den Schnabel, Schluckbewegungen, ich sehe die winzige Vogelzunge gierig hin- und herfahren. Daraufhin wird das Tierchen ganz unruhig und wild, es benimmt sich, als wolle es das Nest verlassen, dabei hebt es am Ende nur den Hintern und kackt über den Rand. Wohlerzogen! Es nimmt noch zweimal Müsli nach, dann ruht es.
Abends wird das Wetter kühler, und nach der ersten Nacht allein im Nest erscheint mir der Vogel stundenlang fast leblos. Die Nachbarin kommt erneut zum Einsatz und packt ihn in eine mit Geschirrtüchern ausgelegte Tupperdose. So wird er im warmen Haus neben dem Computer auf den Tisch gestellt. Sobald er den Schnabel aufreißt, kriegt er seine Müslipampe verabreicht, wir lernen beide dazu. Anfangs erwischt man gern zu viel, dann quillt ein bisschen heraus, man putzt ihn also ab, damit er nicht verklebt, der Schnabel, so klein wie ein Fingernagel. Dass er immer nach dem ersten Bissen kackt, hat die Pflegerin jetzt verstanden. Er hebt inzwischen den Hintern nicht mehr heraus, sondern lässt sich ein Stück Küchenrolle drunterhalten. Wird er so schnell menschlich?
»Aber ich werde keine Maden klein schneiden.«
Wir etablieren einen ungefähren Zweistundenrhythmus. Fressen, kacken, fressen, schlafen. Und wieder von vorn. Ich schlafe schlecht, weil ich jeden Morgen befürchte, er liege tot in seiner Schachtel. Ich wache um sechs Uhr auf und sehe nach ihm. Er lebt, will aber noch nicht fressen. Nachts höre ich die Katze, die ich noch nie gesehen habe, im Garten miauen und hege Rachegefühle.
In der Küche riecht es, nicht unangenehm, trotzdem streng. Wald-Wild-Geruch, nicht von den Ausscheidungen, sondern vom Vogel selbst. Ich esse wenig in diesen Tagen, mir graust ganz allgemein. Ich schreibe wenig. Aber wenn der Vogel, bis auf Kopf und Flügel nackt und nicht größer als mein Daumen, seinen Schnabel aufreißt und zerkochtes Müsli schluckt, bin ich recht zufrieden.
Ich will es noch besser machen. Im Hochmut liegt ja oft der Keim des Scheiterns. Ich telefoniere mit der Frau des Tierarztes. Sie hat einmal mit Katzenfutter eine Taube großgezogen. Ich kaufe ein winziges Döschen geleeartige »Truthahn-Paté«, die zwar bestialisch stinkt, sich aber leichter mit der Spritze aufziehen lässt. Einen Bissen nimmt er. Doch beim zweiten Mal, bilde ich mir ein, spuckt mein Vogel aus. Er kann eigentlich nicht spucken, aber er vermag offenbar mühsam, etwas NICHT zu schlucken. Ich spritze ihm den Schnabel von der Seite mit ein paar Tropfen Wasser sauber.
Ich kaufe in der Apotheke eine neue Spritze. Ich erzähle allen, die ich treffe, von meinem Vogel. Die meisten schütteln skeptisch den Kopf, ich sage, »aber bitte, seit über 48 Stunden! Und Stoffwechsel!« In meinem Kopf setzt sich das Wort »Maden« fest, erst hat es ein Nachbar fallen gelassen, dann die Apothekerin: »Die fressen doch kleine Maden.« In unserem wunderbaren, wohlausgestatteten Dorf gibt es auch einen »Angelshop«, zu dem ich kilometerweit radeln muss.
Weil die ganz kleinen Maden ausverkauft sind, erwerbe ich zögernd die mittelgroßen, in einer durchsichtigen Plastikschachtel, in der es sich sehr bewegt. Der Besitzer des Angelshops lacht über mein Gesicht. Sind diese Maden zu groß? Ich vereinbare mit mir: Ich spende meine teure Pinzette, mit der ich mir die Augenbrauen zupfe. Aber ich werde keine Maden klein schneiden. Entweder es funktioniert oder nicht.
Es ist Abend, der kleine Vogel sperrt den Schnabel auf, ich bilde mir ein, er erkennt schon meine Stimme. Ich werfe zitternd eine Made hinein. Er schluckt und reißt den Schnabel wieder auf. Ich werfe noch eine Made hinein. Ich juble: Jetzt wird er groß und stark!
Ich verschwende die ersten, größenwahnsinnigen Gedanken an die Frage zukünftiger Flugübungen. Wird er später von selbst wissen, wie er sich sein Futter sucht? Ich überlege: Eine Made, im Verhältnis zur Körpergröße, das ist so viel wie ein großes Wiener Schnitzel. Das muss jetzt reichen. Er schläft, ich schreibe. Nach einer Weile bewegt sich etwas am Bildrand. Der Vogel schläft. Neben ihm, in seinem Stoffnest,
zappelt eine Made. Beinahe hätte ich aufgeschrien. Ich packe die Made mit der Pinzette, der Vogel erwacht und reißt den Schnabel auf. Ich werfe die Made, die sich wehrt, hinein. Geschluckt. Vogel schläft. Ich beobachte ihn scharf. Nach etlichen Minuten kommt die Made wieder hoch und heraus, mir scheint, der Vogel seufzt beinahe, bevor er den Schnabel ein kleines bisschen öffnet und sie entlässt. Ich packe die Made mit der Pinzette und renne in den Garten. Ich lasse sie fallen und trample tobend in der dunklen Wiese herum. Ich gehe zum Kühlschrank und nehme eine kleinere Made heraus, die sich weniger bewegt. Nein, ich werde keine Maden klein schneiden!
Ich erkenne, dass bei den Maden dort vorne ist, wo sie am dünnsten sind und einen schwarzen Punkt haben. Erst dächte man es andersherum. Ich glaube immer noch fest daran, dass jedes, auch das abseitigste Wissen prinzipiell sinnvoll ist. Obwohl ich das hier nicht argumentieren kann.
Ich schreibe bis Mitternacht, der Vogel ist unruhig. Nachher bilde ich mir ein, er habe mit dem Schnabel geklappert. Trotzdem schlafe ich in dieser Nacht zum ersten Mal wieder gut.
Ich erwache spät und ahne alles. Ich gehe hinunter und sehe es schon von Weitem, obwohl wie immer nur Kopf und Schnabel unter dem Tuch hervorlugen, ich habe ihn abends immer warm zugedeckt. Aber jetzt liegt er auf der Seite, damit es keine Missverständnisse gibt. Ich nehme das Körbchen und gehe nach hinten in den Garten, ich zupfe den Stoff weg und werfe meinen kleinen Freund in hohem Bogen über den Zaun ins dichte Gehölz. Unserem jüngsten Sohn werden wir später sagen, ich hätte ihn »in den Wald gebracht«, statt »geworfen«, damit es nicht so grob klingt. Ich schmeiße die Maden in die Mülltonne. Und alle benutzten Geschirrtücher hinterher. Die Pinzette koche ich aus.
Am Nachmittag reist die Familie wieder an.
»Es vogelt«, sagt mein Mann und rümpft die Nase.
»Hätte ich nur nicht diese Scheiß-Maden …« und »wäre ich nur bei meinem Müsli …« lauten meine fortgesetzten Selbstanklagen. Mein Mann erinnerte mich daran, dass ursprünglich die Katze schuld war.
Diese Geschichte hat keine Moral. Ich habe mein Bestes gegeben, und hatte dabei nicht einmal Internet. Ich habe noch zwei Nächte lang von Maden geträumt, die mir zwischen den Zähnen steckten und schlängelnd nachwuchsen, sooft ich sie auch mit der Pinzette entfernte. Demnächst werde ich den Hohlraum der Schlauchaufhängung zustopfen oder zukleben. Denn ehrlich, die jungen Amseln, die letztes Jahr darin ausgebrütet wurden, waren auch verdächtig schnell weg. Trotzdem fühle ich mich seither wieder besonders inkompetent, hilflos und lächerlich, was aber wahrscheinlich keine schlechte Voraussetzung ist, wenn man versucht, einen Roman zu schreiben.
Illustration: Thomas Kartsolis