Kaum vorstellbar, dass der reizende, höfliche und adrette Jonathan Franzen in seiner Jugend mal ein Punk gewesen sein soll.
SZ-Magazin: Sie haben das Schreiben einmal einen schmerzhaften Prozess genannt. Was tut dabei weh?
Jonathan Franzen: Wenn man einen Roman schreibt, rührt man oft an persönlichen, peinlichen Dingen, an die man lieber gar nicht dächte. Man fühlt sich schrecklich, man zweifelt an sich, man fühlt sich schlecht. Das darf man schon schmerzhaft nennen.
Ihr neues Buch heißt Das Kraus-Projekt und beinhaltet zwei große Aufsätze des österreichischen Satirikers Karl Kraus, die Sie übersetzt und in ebenso langen Fußnoten kommentiert haben – bereitet die Arbeit an einem Sachbuch weniger Schmerzen als die Arbeit an einem Roman?
Bei Kraus war eher schmerzhaft, dass wir bei einigen Sätzen auch zu dritt keinen blassen Schimmer hatten, was sie bedeuten – mir haben ja zwei Kraus-Spezialisten bei den Fußnoten geholfen: mein Freund Daniel Kehlmann, der österreichische Schriftsteller, und Paul Reitter, ein Literatur-Professor von der Universität Ohio. Und manchmal, das gebe ich nicht gerne zu, fanden wir auch einfach schlechte Sätze. Kraus hat einige wenige richtig schlechte Sätze geschrieben. Das war frustrierend.
Haben Sie Ohrstöpsel während der Arbeit benutzt?
Natürlich. Ich habe die vergangenen 25 Jahre sechzehn Stunden am Tag Ohrstöpsel getragen. Selbst E-Mails schreibe ich mit Ohrstöpseln.
Auch mit Kopfhörern und Augenbinde?
Kopfhörer nur, wenn es sehr laut um mich herum wird. Und die Augenbinde habe ich nur ein einziges Mal benutzt, als ich an einigen ganz schwierigen Passagen in den Korrekturen saß und erst kurz zuvor mit dem Rauchen aufgehört hatte. Damals ließ ich mich unglaublich leicht ablenken, schon der kleinste visuelle Reiz auf meiner Retina genügte.
Sie mussten sich mit Ihren Co-Autoren absprechen. Hatten Sie diesmal Internet-Anschluss während des Schreibens?
Niemals. Auf keinen Fall. Aber sobald ich fünf, sechs Stunden im Büro geschrieben habe, setze ich mich zu Hause für eine Stunde hin und erledige meine Mails.
Haben Sie während der Arbeit an Kraus unter einer Schreibblockade oder unter Depressionen gelitten?
Nein, das Buch ist vergleichsweise schnell fertig geworden. Im April begann ich mit der Übersetzung, und im Spätsommer war ich schon mit den Fußnoten fertig. Ich war so dankbar, nicht an einem Drehbuch schreiben zu müssen!
Der Roman Die Korrekturen bedeutete vor 13 Jahren Ihren Durchbruch als Schriftsteller. Wann wird die Fernsehserie fertig sein?
Erst mal gar nicht. HBO hat das Projekt begraben. Unser Pilotfilm war zu schlecht.
Der erste große Aufsatz im Kraus-Buch ist eine Schmähschrift über den Dichter Heinrich Heine. Wie oft haben Sie diesen Aufsatz wohl gelesen?
Sicherlich fünfzig Mal, vorsichtig geschätzt. Selten in einem Rutsch von vorne bis hinten, weil fast jeder Satz eine große Herausforderung darstellt, aber man muss Kraus nicht in einem durchlesen. Viele der eingängigen Aphorismen habe ich schnell auswendig gekannt. An meine Lieblingssätze aus dem Heine-Aufsatz habe ich also noch viel öfter gedacht. Und auch wenn ich längst nicht mehr so bewegt von Kraus bin und nicht mehr so in ihm stecke: Seine Sätze sind mir noch geläufig und drehen in meinem Kopf ihre Runden. Sobald ich etwa auf irgendeiner besonders furchtbaren Webseite auf das Wort »Individualität« stoße, muss ich sofort an Kraus’ Zeile denken: »Wo alle Individualität haben, und alle dieselbe.« So geht es mir in vielen Situationen mit vielen seiner Sätze.
Sie haben insgesamt zwei Jahre als Germanistik-Student in Deutschland verbracht. Wie sind Sie da auf Kraus gestoßen?
In Berlin, an der FU, besuchte ich ein Seminar über Kraus, und weil ich ein guter Student war, las ich zur Vorbereitung einige seiner Texte. Auch seinen Aufsatz Heine und die Folgen. Schon die wörtliche Übersetzung bereitete mir große Mühe. Die Leute, über die er schrieb, kannte ich überhaupt nicht. 25 Jahre später machten mir Daniel Kehlmann und Paul Reitter klar, dass selbst das Thema des jüdischen Selbsthasses bei Kraus komplett an mir vorbeigegangen war. Für solche Hinweise in Fußnoten wäre ich dankbar gewesen.
Bei der wievielten Lektüre sind Sie auf die Idee gekommen, Heinrich Heine mit Bob Dylan zu vergleichen?
Die Fußnote muss ich im September geschrieben haben, dem Monat, in dem jedes Jahr aufs Neue der Vorschlag auftaucht, Bob Dylan den Literatur-Nobelpreis zu verleihen. Nun, warum verleihen wir ihn nicht Paul McCartney? Warum verleihen wir ihn überhaupt noch an Schriftsteller und geben ihn nicht lieber Leuten, die wirklich populär sind? Eine schreckliche Idee. Jedenfalls war Heine damals ähnlich populär, wie Dylan es heute ist.
Populär sind Sie auch. Ihr Gesicht kennt man selbst in Deutschland.
Verrückt. Ich versuche, nicht zu viel daran zu denken. In New York werde ich auf der Straße angesprochen, aber New York ist nicht Amerika. In der Innenstadt von Tulsa hätte ich wohl mehr Ruhe. Ich kann mich auch nicht erinnern, je in Deutschland auf der Straße angesprochen worden zu sein. Aber zwischen Heine und Dylan gibt es ja noch mehr interessante Parallelen als ihre Berühmtheit: Dylan ist ebenfalls als Jude zum Christentum konvertiert, seine christliche Phase hatte er in den späten Siebzigern. Außerdem ist er ein großartiger und einflussreicher Musiker, und jeder hält ihn wahrscheinlich für einen schrecklich netten Kerl, wie Heine. Aber Kraus hat Heines schlechten Charakter kritisiert, weil der eine Liebschaft Ludwig Börnes geoutet und oft eine Meinung vertreten hat – schon auf der nächsten Seite aber das Gegenteil. Sänger machen das auch gern, sie wechseln ihre Position von Lied zu Lied. Ich könnte mir jedenfalls gut vorstellen, wie Bob Dylan, wäre er nicht Musiker geworden, im West Village Gedichte in kleiner Auflage verkauft. So in etwa kam ich auf die Idee.
Kraus selbst ist heute kaum mehr bekannt. Auch die meisten Leute, die er in seiner Zeitschrift Die Fackel verrissen hat, sind längst vergessen. Warum lohnt es sich dennoch, ihn zu lesen?
Er erkannte als Erster die ungeheure Macht der Massenmedien und Technologie im Kapitalismus, und seine Kulturkritik wirkt gerade heute ungeheuer relevant. Fast möchte man sagen, er hätte seine Kritik nicht für die Presse seiner Zeit verschwenden sollen, sondern sie besser für Facebook, Steve Jobs und Fox News aufgehoben. Er hat vor hundert Jahren einige Gedanken über die Moderne vorweggenommen, die Kritiker wie Evgeny Morozov oder Jaron Lanier unabhängig von ihm neu formuliert haben. Außerdem ist Kraus mitunter unglaublich lustig. Aber die Leute hatten Angst vor ihm, weil er als der große Hasser galt, als schwierig und obskur.
Seine Leser waren ihm ziemlich egal.
Kraus wollte nichts mit ihnen zu tun haben und verachtete sie nahezu. Er schrieb für die Nachwelt und fand es wichtig, die Wahrheit zu sagen. Er war der einzige Autor in Europa, der von der ersten Minute an gegen den Ersten Weltkrieg geredet hat. Sein Beispiel ermutigt noch heute, unpopuläre Wahrheiten auszusprechen. Das rechne ich ihm hoch an, auch wenn ich mich inzwischen von ihm abgewandt habe, von seiner Vorstellung, wie ein Schriftsteller zu sein habe.
Schriftsteller, die Sie zeitweise beeinflusst haben, nennen Sie Freunde: Tolstoi, Nabokov, sogar Freud.
Freud ist kein Freund für mich, aber auch kein Feind.
War Karl Kraus Ihr Freund?
Kraus war tatsächlich eine Zeit lang eines meiner Idole. In meinen Zwanzigern, als ich sehr zornig war. Reagan war Präsident, die nukleare Bedrohung warf lange Schatten, und ich war am Ende meiner College-Zeit ganz versessen darauf, der Welt zu erzählen, was in ihr falsch läuft. Das betrachtete ich als wesentliche Aufgabe von Literatur, und das tut die Literaturtheorie ja immer noch. Kraus stellte für mich zu der Zeit eine Mischung aus Held und furchterregendem Vater dar. Mein eigener Vater war dagegen überhaupt nicht zornig und auch kein Schriftsteller. Er war mit 44 Jahren bei meiner Geburt schon alt und ein sehr strenger, rechtschaffener, ernster Vater. Neben Kraus hatte mit 23 allenfalls noch die Punk-Musik einen ähnlich starken Einfluss auf mich. Da ging es darum, dünn zu sein und zäh und kompromisslos. Hier im Regal an der Seite stehen meine alten Platten, da ist eine frühe von den Talking Heads, die habe ich auch einmal in München gehört, auch The Clash und Elvis Costello spielten Anfang der Achtziger irgendwo in einem Jugendzentrum im Norden Schwabings. Sehen Sie mal: Solche Röhrenjeans und Schnürstiefel wie auf diesem Plattencover trug man damals.
Sahen Sie auch so aus wie ein Punk?
Ja. Ich wog gerade mal 62 Kilo und war für meine Größe wirklich spindeldürr, als ich von meinem Auslandsjahr in Deutschland zurückkehrte. Jedenfalls bewunderte ich Kraus so sehr, dass ich meine Sätze nach ihm klingen ließ. Seinen Vater zu bewundern, ist auch gut, allerdings muss man, wenn man als Persönlichkeit reifen möchte, bald auch etwas finden, in dem man den Vater übertreffen kann. Ich konnte Geschichten erzählen, diese Gabe ging ihm völlig ab. Er hätte nicht mal eine Geschichte erfinden können, um sein Leben zu retten.
Kraus hat Romane verachtet.
Sie blieben ihm zumindest fremd, er schaffte es nicht, sie zu lesen, und hat sich über sie lustig gemacht. Irgendwann bemerkte ich, dass ihm noch etwas Wichtiges fehlte: die Distanz zu sich und seinen Urteilen. Seine unerschütterliche Selbstsicherheit in seinen Beurteilungen fand ich irgendwann abstoßend. Gute Erzählkunst und Selbstgewissheit schließen einander aus, besonders in moralischen Urteilen. Je ehrlicher man eine Geschichte schreibt, desto eher muss man berücksichtigen, dass zwei Standpunkte unvereinbar sein können, aber durchaus beide wahr. Im Roman hat Überheblichkeit keinen Platz. Für Kraus wurde sie auch zum Problem: Er gab niemals zu, im Fall Dreyfus und dessen Verurteilung als Landesverräter im Unrecht gewesen zu sein. Auch nach der Machtergreifung der Nazis hat er nie eingeräumt, dass seine antisemitischen Äußerungen keine gute Idee gewesen waren. Er dachte in Schwarz und Weiß, so funktionierten seine Aphorismen, die von der Übertreibung leben, von übertriebenen Gegensätzen.
»Frank Wedekind wäre sicherlich Rock ’n’ Roller geworden, wenn er da gewesen wäre, wo ich war.«
Wäre Kraus Ihr Freund, wenn er leben würde?
Schwer vorstellbar. Ich überlege, wer ihm heute ähnlich ist. Adorno vielleicht, aber der lebt ja auch nicht mehr. Wahrscheinlich hätte ich Angst vor Kraus, so wie so viele Menschen damals.
Privat war er offenbar ein freundlicher Mensch.
Aus seinen Briefen an seine Freundin Sidonie kann man sogar Zärtlichkeit herauslesen. Es gibt genügend Berichte darüber, wie er Geld verliehen und Freunde bei ihrer Arbeit unterstützt hat, nicht nur finanziell. Sobald er den Stift beiseite legte, war er nicht mehr Gefangener seiner Schroffheit. In gewisser Weise hat sein Stil die Wut geradezu erzeugt.
Sie haben schon einmal einen deutschsprachigen Autoren übersetzt: Frank Wedekind.
Er wäre sicherlich Rock ’n’ Roller geworden, wenn er da gewesen wäre, wo ich war. Er war begeisterter Gitarrenspieler und hatte auch eine Gefolgschaft wie ein Rockstar. Seine Groupies machten sein Begräbnis zu einer großen Party.
Viele Prostituierte haben Wedekinds Beerdigung besucht.
Die müssen Kraus auch geliebt haben, er hat sich sehr um ihr soziales Wohlergehen gesorgt.
Was reizt einen Bestseller-Autor an Übersetzungen?
Wissen Sie, mein Deutsch ist nicht allzu spektakulär, ich kann lesen und auch ein bisschen sprechen, aber Übersetzungen eignen sich ganz gut, um nicht noch mehr Deutsch einzubüßen.
Die Fußnoten im Buch bestehen zu einem Großteil aus einer Erzählung Ihrer Zeit in Deutschland, die Sie zum Kraus-Fan werden ließ. Sie lesen sich wie ein moderner Entwicklungsroman über das Erwachsenwerden. Warum haben Sie den in Fußnoten versteckt?
Das war ziemlich heikles Material. Ich musste über meine Beziehung zu meiner jetzigen Ex-Frau schreiben, ohne ihre Privatsphäre zu verletzen, und mir war auch sehr peinlich, was für ein dummer Junge ich damals war. Diese Teilmemoiren in einer für sich stehenden Geschichte zu veröffentlichen, wäre mir schwer gefallen. Ich hatte ja wirklich überlegt, alles in eine ausführliche, erzählerische, biografische Einleitung zu packen. Schon bei der Gliederung merkte ich, dass ich das nicht schaffe. Ging einfach nicht. Viel zu peinlich. Die Scham ließ mich verstummen. Erst die Fußnoten gaben mir die nötige Deckung, in ihnen fühlte ich mich sicherer. Sie waren ja auch wichtig in Hinsicht auf meine vielen Querverweise zum Internet und den sozialen Medien, die ich ziehe: Kraus war ohne Zweifel der erste Blogger. Die Fußnoten waren mein eigener Blog, ein interaktiver Blog, weil ja auch Daniel Kehlmann und Paul Reitter einige Fußnoten verfassten. Ich hoffte, Fußnoten könnten all die harschen Kommentare relativieren, die ich da über das Internet oder Apple oder Facebook oder Twitter mache. Die Fußnote zu Apple schrieb ich ziemlich früh, da merkte ich: Hey, Fußnoten könnten ja ein wesentlicher Bestandteil des Buches werden. In gewisser Weise habe ich mich mit ihnen auch von Kraus emanzipiert: Die hätte er niemals schreiben können.
Scham betrachten Sie als die wichtigste Quelle Ihrer Erzählungen. Was war die peinlichste Beichte aus Ihrer Berliner Zeit, die Sie in den Fußnoten versteckt haben?
Die Zitate aus meinen alten Briefen an meine damalige Freundin sind mit Sicherheit am schlimmsten. Die kommen einer Selbstzüchtigung gleich. Ich habe zwei dicke Stöße mit Durchschlägen aller Briefe aus diesem Jahr, beidseitig eng beschrieben, auf Kohle-Durchschlagpapier. Ich wollte meine Briefe für die Nachwelt bewahren. Verrückt, peinlich. Und natürlich habe ich mich auch dafür geschämt, nicht mit dem einen Mädchen in München geschlafen zu haben.
Sie waren zu ängstlich, mit dieser Frau zu schlafen und wurden deswegen so wütend auf sich selbst, dass Sie sich vornahmen, so unerschrocken zu werden wie Ihr Held Kraus. Hätte es ohne diese Frau das Kraus-Projekt jemals gegeben?
Wahrscheinlich nicht.
Sind Ihnen mit zunehmendem Alter weniger Dinge peinlich?
Meine Mutter war ihr ganzes Leben darauf bedacht, wie die Dinge für andere aussehen, aber in ihrem letzten Jahr vor dem Tod änderte sich das drastisch. Ich hielt es bis dahin genauso und war ständig besorgt, was die anderen wohl von mir denken. Meine Mutter vermittelte mir, dass es Wichtigeres im Leben gibt, zum Beispiel den Tod. Das wirkte sehr befreiend für mich.
Hätten Sie schon früher so über die peinlichsten Momente in Ihrem Leben schreiben können?
Vielleicht hätte ich die Fußnoten zu Kraus zehn Jahre früher schreiben können, aber nicht viel eher. Als meine Mutter gestorben ist, habe ich allmählich begriffen, dass ich eine andere Art von Schriftsteller werden muss. Ich durfte meine Scham mitsamt allen Schwächen meines Selbst nicht länger hinter der Meisterung interessanter Erlebnisse verstecken und mich als großer, weltläufiger Romanautor gerieren. Ich beschloss, stattdessen über die Dinge zu schreiben, zu denen ich mich am wenigsten äußern wollte. Das fing gleich nach dem Tod meiner Mutter 1999 an und manifestierte sich in den Korrekturen, die 2001 erschienen. Aber ich hatte das eigentlich schon etwas früher nach einer kurzen Unterhaltung mit dem Redakteur begriffen, der mich beim New Yorker betreute – sein Ratschlag gehört immer noch zu den tollsten, die ich je bekommen habe: Er schlug vor, ich solle über Zigaretten schreiben, ich antwortete, das sei das Letzte, worüber ich schreiben wolle – zum Teil, weil meine Mutter bis dahin immer noch nicht wusste, dass ich rauchte, aber auch, weil ich mir selbst nie eingestehen wollte, Raucher zu sein, obwohl meine Aschenbecher überquollen. Seine Antwort: Genau deswegen musst du drüber schreiben. Er wusste, das Letzte, worüber man schreiben möchte, ist das heikle Thema, über das sich zu schreiben lohnt. Ich schrieb den Artikel, und meine Mutter, die erst beim Lesen erfuhr, dass ich rauchte, war so wütend, dass sie sechs Wochen lang kein Wort mit mir sprach. Und das, obwohl ich gleich, nachdem der Artikel erschienen war, mit dem Rauchen aufhörte. Das ehrliche Coming-out in dem Magazin hat mir letztlich geholfen, damit aufzuhören. Ich habe grundsätzlich diese Sechziger-, Siebzigerjahre-Mentalität, Schreiben könne die Selbstfindung beschleunigen. Das habe ich jetzt wahrscheinlich nicht sehr elegant formuliert.
Sie benutzen Erlebnisse aus Ihrem Leben, für die Sie sich schämen, als Stoff für Romane wie für persönliche Berichte. Verwischt das bei Ihnen die Grenze zwischen Fiction und Non-Fiction, zwischen Roman und Sachbuch?
Nein. Es gibt in jedem Fall einen ganz substanziellen Unterschied: Ein Autor von fiktionalen Texten muss sich beim Schreiben in einem traumähnlichen Zustand befinden, um Dinge quasi aus dem Nichts heraus erfinden zu können. Ein Schriftsteller lebt das Schreiben so, als ob er ein zweites Leben führen würde. Das ist eine ganz andere Erfahrung als bei einem reinen Sachbuch. Wobei eine gut erzählte Non-Fiction sich natürlich ebenso fesselnd lesen kann wie ein Roman.
Das Kraus-Projekt hat in den USA und England einige schlechte Kritiken bekommen. Könnte das an Ihrer radikalen Ablehnung von Amazon, Facebook und Apple in den Fußnoten gelegen haben?
Ich lese keine Besprechungen. Zwei waren durchgängig gut, hat man mir gesagt. Beim Rest muss man wohl jede für sich betrachten. Die Übersetzer – also die Fachleute, von denen wir hofften, dass sie begeistert wären – reagierten in der Mehrheit enttäuscht: Sie waren der Meinung, ein Schriftsteller dürfe nicht auf ihrem Spezialgebiet wildern.
Was hatte Salman Rushdie an dem Buch auszusetzen?
Ich habe geschrieben, dass er mich enttäuscht hatte, weil er twittert. Einige Leute wollen mir weismachen, Twittern sei eine Kunst. Ich halte nicht viel von dieser Kunst. Aber wir begegneten uns zufällig vergangene Woche und unterhielten uns kurz. Er sagte: Du bist kein schlechter Kerl, du bist bloß elitär – das ist in den USA natürlich ein Schimpfwort. Ich sagte: Und du hast Popularität mit Populismus verwechselt. Aber es ist alles gut. Wir haben uns beim Abschied umarmt.
Was ist so schlimm am Twittern?
Rushdie benutzt Twitter für durchaus löbliche Zwecke, etwa um für andere Schriftsteller zu werben. Damit habe ich kein Problem. Lassen Sie es mich so ausdrücken: Die Schriftsteller, die ich am meisten bewundere, twittern eben nicht. Ich glaube, das kommt auf die Persönlichkeit an, und Rushdie war immer jemand, der öffentliche Aufmerksamkeit genoss und brauchte.
Er brauchte Aufmerksamkeit, um zu überleben.
Die Aufmerksamkeit der Ajatollahs hatte er schon zuvor erhalten. Viele Schriftsteller wollen Aufmerksamkeit erregen, das ist auch in Ordnung. Aber für junge Autoren kann es sehr gefährlich werden, wenn sie in den sozialen Medien sofortige Bestätigung suchen können. Die Einsamkeit, das Alleinsein vor der leeren Seite, an der man gerade arbeitet, ist bedroht durch das konstante elektronische Bombardement. Rushdie weiß sicherlich, wie er seine Bücher schafft, er befindet sich in einem späten Stadium seiner Karriere und wird sich nicht aus dem Konzept bringen lassen. Aber für junge Kollegen, die erst Mitte zwanzig sind, gibt er sicherlich kein gutes Beispiel ab. Entschuldigen Sie bitte, ich muss Sie jetzt rausschmeißen. Sie sehen, wie es hier aussieht. Ich muss noch fertig packen. Morgen früh fliege ich für drei Wochen nach Peru.
Wegen Ihrer großen Leidenschaft? Vögel beobachten?
Vögel beobachten. Unter anderem.
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Jonathan Franzen
kam als Germanistik-Student nach München und Berlin, fing an, Karl Kraus zu lesen, und vergaß ihn nie. Sein Roman »Die Korrekturen« machte Franzen im Jahr 2001 weltberühmt. Im vergangenen Jahr übersetzte er Karl Kraus ins Amerikanische - und brachte in den kommentierenden Fußnoten auch eine Erzählung seiner Zeit in Deutschland unter. »Das Kraus-Projekt« ist soeben bei Rowohlt erschienen. Jonathan Franzen, 55, lebt abwechselnd in New York und in der Nähe von Santa Cruz, Kalifornien.
Foto: Jonathan Frantini