Eine unbewohnte Villa in der Klettenbergstraße im Frankfurter Nordend. 43 Jahre lang hat hier der Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld gelebt, heute werden die Räume für Buchpräsentationen und den jährlichen Kritikerempfang zur Buchmesse genutzt. Im Wohnzimmer hat ein Mann Platz genommen, der seit Unselds Tod vor 14 Jahren die wichtigste Suhrkamp-Figur ist. »Wählen Sie Ihre Worte mit Bedacht, Sie werden beobachtet«, sagt der Cheflektor Raimund Fellinger und deutet auf zwei Bilder von Andy Warhol an der Wand. Das eine zeigt Goethe, das andere den verstorbenen Hausherrn.
SZ-Magazin: Stephen King schreibt über seine Kindheit: »Mit 13 verlangte es mich nach Monstern, die ganze Städte fraßen, nach radioaktiven Leichen, die aus dem Meer kamen und Surfer verschlangen, und nach Mädchen in schwarzen BHs, die wie Flittchen aussahen.« Waren Sie auch so?
Raimund Fellinger: Nein. Vielleicht sollte ich sagen: Leider nein. Die größte Zäsur war, dass ich mit 16 von einem Tag auf den anderen mit Fußball und intensivster Leichtathletik aufgehört habe. Fortan gab das Lesen den Ausschlag, von Ulysses bis Karl May, und zwar in dieser Reihenfolge.
Was machte Sie über Nacht zum Leser?
Wenn ich das wüsste. Plötzlich ging nichts anderes mehr als Lesen. Das führte so weit, dass mich ein Lehrer nach vorne rief und mich der Klasse als Abschreckung hinstellte für jemand, der in der Woche acht Bücher ausleiht und nur liest. Das Abschreckende bestand offenbar in meinem Sozialverhalten. Ich saß in der hintersten Bankreihe und meinte natürlich, alles besser zu wissen. Deshalb wurde ich von diesem Lehrer in der Regel gleich die ganze Stunde vor die Tür gestellt. Die Sommerferien waren selbstverständlich eine Katastrophe für mich: Da hatte die städtische Leihbücherei geschlossen.
Kommen Sie aus einem Lesehaushalt?
Überhaupt nicht. Bei uns zu Hause standen drei Bücher: irgendein biblisches Lexikon, ein fürs Kreuzworträtsellösen behilflicher Band und Die schönsten Sagen des klassischen Altertums. Vater Postbeamter, Mutter Hausfrau, Bauernfamilie. Ich verdanke einem meiner Deutschlehrer sehr viel. Er hat uns Leselisten diktiert, von Brockes über Tieck bis Mann. Tieck habe ich verkehrt geschrieben. Ich kannte den nicht und habe Teak geschrieben, wie Teakholz. Ganz schlimm.
Als Sie mit 27 an Ihrer Promotion über Heinrich Heine schrieben, bat der Suhrkamp-Chef Siegfried Unseld um ein Treffen. Warum interessierte sich der Leiter des bedeutendsten deutschen Verlags für ein unbeschriebenes Blatt wie Sie?
Das lief wie heute auch über Mundpropaganda von Professoren. Als ich im Frühjahr 1979 in Unselds Zimmer saß, hieß es: »Ich will Sie nicht vom Promovieren abhalten, aber schreiben Sie doch mal ein Gutachten über Bourdieu, Un art moyen.« Mehr an Eignungstest war nicht.
Sie hatten damals schulterlanges Haar und einen Vollbart, und Sie waren Kettenraucher. Fiel Ihr Name, folgte die Warnung: »Der redet kein Wort!« Was machte Sie zum Schweiger?
Es war nicht vorgesehen, dass ich in dieser Art Welt landete. Ich war bis zum siebten Schuljahr auf der Volksschule und wäre auch lieber dort geblieben. Es wurden dann aber im Saarland für Unterschichtkinder sogenannte Aufbaugymnasien geschaffen, für die man kein Schulgeld bezahlen musste. Von den 250, die mit mir anfingen, sind nur 50 bis zum Abitur gekommen. Ich will mich damit nicht aufspielen, es erklärt aber vielleicht, warum ich nicht der eloquent-lässige Typ war.
Sie haben bei Suhrkamp einen Blitzstart hingelegt und es mit heiligen Monstern zu tun bekommen wie Wolfgang Koeppen, Uwe Johnson, Thomas Bernhard, Martin Walser, Peter Handke und Peter Sloterdijk.
Als ich sechs Monate im Verlag war, fragte Unseld: »Wollen Sie nicht der Lektor von Peter Handke werden?« Erst zwei Jahre später erfuhr ich, dass es nicht an meinen Leistungen gelegen hatte, dass mir diese Ehre zuteil wurde. Handke hatte sich geweigert, weiter mit seiner damaligen Lektorin zu arbeiten. Bei Bernhard verlief es ähnlich. Er war nicht mehr mit seinem Lektor Unseld zufrieden.
Nach einem Treffen mit Unseld notierte Martin Walser in sein Tagebuch: »Einmal aß Siegfried bei seiner Tante ein weichgekochtes Ei. Die Tante: ob er nochmal eines wolle. Er wusste sofort, dass er jetzt sagen sollte, nein danke, ich will keines mehr. Er musste aber einfach sagen, dass er schon noch eins mögen würde. Ihm wurde heiß wegen seiner Kühnheit. Und sie schob ihm im Eierbecher das Ei hin. Er nahm es, glücklich und beschämt, und klopfte es auf. Da hatte er die leere Schale des ausgegessenen Eis in der Hand, und alle lachten. Das wird er nie vergessen. Das ist für ihn der Unterschied von Arm und Reich. Der Arme will ein 2. Ei, kriegt ein leeres und macht sich lächerlich.«
Unseld hat vor allem darunter gelitten, dass er in seinen ersten Suhrkamp-Jahren geringgeschätzt bis verachtet wurde. Der damalige Cheflektor Walter Boehlich hielt ihn für einen Vollidioten, um es überspitzt zu sagen. Ein Journalist schrieb noch 1974, da war Unseld auf dem Zenit angekommen, er sei ein Rugby-Spieler, der unter die Literaten gefallen sei.
Unseld fuhr eine Jaguar-Limousine mit dem Kennzeichen F-SU 1, trank Weißwein aus silbernen Bechern, ließ sich von Andy Warhol malen und heiratete an Goethes Geburtstag. Heute findet man diesen Repräsentationsehrgeiz bei den Geissens.
Natürlich wollte Unseld demonstrieren, dass er es nach oben geschafft hatte, aber das mit dem Jaguar ist eine andere Geschichte. Als sein Autor Max Frisch sich einen Jaguar kaufte, wollte Unseld auch einen. Es gibt ein tolles Foto, das die beiden in Zürich vor ihren Jaguars zeigt. Frisch hatte natürlich den noch mächtigeren. Unseld hatte im Laufe der Jahre drei Jaguars. Der letzte steht noch unten in der Garage. Auf dem Nummernschild steht F-SU 3.
War Unseld eitler als im Literaturbetrieb üblich?
Nein, zumindest nicht physisch, im äußeren Auftreten. Etwas anderes ist, dass er die Beobachtungen seiner Autoren gerne als Eigenbeobachtungen ausgab, um Damen zu charmieren oder in der Öffentlichkeit aufzufallen.
Unseld starb 2002. Wie war Ihre letzte Begegnung?
Er ist gestorben am 26. Oktober morgens um vier, und ich war am 25. Oktober um 23 Uhr hier oben in seinem Zimmer. Da konnte er schon nicht mehr reden.
Unseld hatte nach einem Schlaganfall sechs Monate lang mit dem Tod gekämpft. Waren Sie am Krankenbett gewesen?
Ja. Irgendwann fragte er, wo ist der Fellinger? Als ihm gesagt wurde, der ist im Verlag, sagte er, der soll herkommen! Bis auf eine Woche Urlaub und ein paar Wochenenden war ich dann jeden Tag bei ihm.
Wie nah waren Sie sich?
Sehr nah, glaube ich. So nah, dass ich am Anfang überrascht war, denn er konnte Männern keine Zuneigung zeigen. Zumindest konnte er nicht zeigen, dass er ohne eine gewisse Zuneigung zu Autoren nicht kann. Darin sah er eine Gefahr: von seinen Gefühlen ihnen gegenüber abhängig zu werden.
Waren Sie per Du?
Nein, nein, per Sie natürlich. Ich bin heute noch jemand, der da sehr konservativ ist. Von den 105 Suhrkamp-Mitarbeitern war ich mit zweien per Du. Der eine hat mir gerade das Du aufgekündigt, die andere, Ulla Berkéwicz, gottlob nicht.
Hat Unseld in Ihnen seinen Nachfolger gesehen und Sie entsprechend trainiert?
Nein. Er wollte nicht, dass ich aus dem Schatten trete. Er wollte mich für sich.
Die Kritik des Lektors erinnert den Schriftsteller daran, dass ein Teil von ihm immer Anfänger bleibt. Kann man deshalb die Gleichung aufstellen: Je berühmter der Autor, desto diffiziler der Umgang mit ihm?
Nein. Die Gleichung lautet: Je berühmter der Schriftsteller, umso mehr verlangt er, dass der Lektor en détail mit ihm arbeitet. Wenn ich an einem Manuskript wenig mache, höre ich: »Das ist alles? Haben Sie wirklich genau gearbeitet?« Bei jungen Autoren nimmt es immer mehr zu, dass sie sich meine Änderungsvorschläge ansehen und dann sagen: »Ich stehe zu meinen Fehlern. Es soll alles so bleiben.«
Helmut Frielinghaus, der Größen wie Günter Grass lektorierte, schrieb an den Rand von Manuskripten gern Gemeinheiten wie: »Gnade! Warum hassen Sie Ihre Leser? Wer soll das lesen?? Und was hätte er dann davon???«
Die Zeit der Oberlehrer, die ein rotes Fragezeichen an den Rand malen oder »Ausdruck!« hinschreiben, ist vorbei. Ich notiere meine Änderungsvorschläge mit Bleistift an den Rand oder schicke einen Brief oder korrigiere direkt in der Datei, ohne die Funktion »Änderung nachverfolgen«. Die Arbeitsgrundlage lautet: Das sind meine Vorschläge. Macht damit, was ihr wollt.
Autoren, die ein Manuskript abgeben, schwanken zwischen Scham, Furcht und Größenwahn.
Während oder kurz nach dem Ende der Arbeit am Buch sind Autoren am verwundbarsten. Die Identifikation mit dem gerade Geschriebenen ist selbst bei denen nicht abgestumpft, die bereits viele Bücher publiziert haben. Der Lektor ist häufig der erste Leser und die erste Instanz der Öffentlichkeit. Mir kann kein Autor weismachen, er wisse bei der Abgabe des Manuskripts, ob er ein Meisterwerk geschrieben hat oder eher das Gegenteil. Deshalb muss man schnell reagieren. Allerdings kann kein Lektor sich nach Erhalt eines Manuskriptes so schnell melden, wie der Autor meint, dass er sich melden müsste. Handke hat Unseld und mir wahnsinnige Vorwürfe gemacht, dass wir Mein Jahr in der Niemandsbucht nicht schnell genug gelesen hätten. Das Manuskript hatte tausend Buchseiten, und ich konnte wegen eines Bandscheibenvorfalls nicht sitzen. Handkes Reaktion war: Diese blöden Typen in Frankfurt reagieren nach drei Wochen immer noch nicht! Wo sind wir denn?
Handke rächte sich an Unseld, indem er ihn in ein Straßenrestaurant bestellte und neben das öffentliche Pissoir platzierte.
Ich habe von Autoren alle möglichen Demütigungen erlebt: Ein halbstündiges Donnerwetter am Telefon, dass ich unfähig sei zu lesen und zu denken, Stehenlassen auf der Straße, stundenlanges Schweigen im Restaurant, Erpressungsversuche durch Winken mit einem anderen Verlag.
Treffen Sie sich mit Autoren, um Änderungen zu besprechen?
Sehr selten. Handke ist eine Ausnahme. Er empfindet ein falsches Komma als Anschlag auf seine gesamte Existenz. Deshalb reise ich mit der druckfertigen Version zu ihm nach Paris. Dann bereinigt er letzte Fehler.
Handke sagt über sich: »In mir ist von Kind an eine seltsame Bereitschaft zur Entzweiung. Es gibt keinen, den ich nicht in zehn Minuten bis an sein Lebensende gedemütigt hätte.«
Zehn Minuten? Seit wann braucht er so lange?
Keilen Sie zurück?
Nein. Dass sich sein Gegenüber ebenfalls gehen lässt, ist von Handke programmiert. Da würde man den Kürzeren ziehen.
Muss man als Handke-Lektor Masochist sein?
Man muss über das reden, was ansteht, und wenn man Pech hat, bekommt man halt einen Anschiss. Aber da darf man sich nichts draus machen. Man erträgt solche Sachen im Glauben an die Bedeutung des Autors für die Welt.
Seinen Erzfeind Marcel Reich-Ranicki schmähte Handke als »das übelste Monstrum, das die deutsche Literaturbetriebsgeschichte je durchkrochen hat«. Versuchen Sie, mäßigend auf ihn einzuwirken?
Nein. Wer das macht, will Autoren, die im Sinne Herbert Wehners gern lau baden und auch so reden und schreiben. Das wären dann Figuren wie dieser widerliche Gauck, der Pfarrer und Pfaffe, der alles mit seiner Sahnesoße übergießt. Hören Sie mir auf!
Wann intervenieren Sie?
Im Manuskript von Heldenplatz hatte Thomas Bernhard den Ausdruck »Salzburger Untermenschen« verwendet. Da habe ich gesagt: »Herr Bernhard, es geht nicht, dass Sie Menschen, die Sie für Nazis halten, im Nazi-Jargon kritisieren.« Das hat er gleich eingesehen. Genau wie Handke, nachdem er in einem live gesendeten Fernsehinterview die Serben als das Volk bezeichnet hatte, das im 20. Jahrhundert am meisten gelitten habe. Unter diesem Fehler leidet er bis heute.
Sie haben viele Jahre sowohl Bernhard als auch Handke lektoriert, obwohl beide einander spinnefeind waren.
Das war ein Konkurrenzkampf: Wer ist der Schönste im Land? Wer ist der Beste in der Österreich-Literatur? Es wird erzählt, dass Bernhard mehr als einmal in Wien ins Flugzeug gestiegen ist mit dem Satz: »Ich muss zu dem blöden Handke-Lektor nach Frankfurt.« Wenn das stimmt, ist es trotzdem nur die halbe Wahrheit. Bernhard war wie Handke: Machte man ihm gute Korrekturvorschläge, war alles gut. Kurz vor seinem Tod habe ich mir ein Buch von ihm signieren lassen. Obwohl er in unserem direkten Umgang in der höchsten Art und Weise höflich war, hat er mir reingeschrieben: »Mein geliebter Fehlersucher«. Das war ein bisschen wenig, fand ich.
Wie war die Arbeit mit Bernhard?
Obwohl er die Druckfahnen nicht Korrektur gelesen hat, hat er Unseld immer zusammengeschissen, wenn Fehler im Buch waren. Das war das Unverschämte an Bernhard.
Warum hat er nicht Korrektur gelesen?
Weil er es gar nicht konnte. Kommata konnte der gar nicht, Rechtschreibung auch nicht. Bernhard schlug Unseld mal vor, seine Schulden beim Verlag durch Lektoratsarbeiten zu begleichen. Der Verleger reagierte mit erschrockener Abwehr. Statt diplomatisch formulierte Absagen zu tippen, hätte Bernhard in die Tasten gehauen: »Wie können Sie Vollidiot so einen Mist schreiben und denken, dass der Verlag das auch noch veröffentlicht?«
1994 beschimpfte Handke Sie als »Verbrecher«. Ein Jahr später notierte Unseld in sein Arbeitsjournal: »Mit Fellinger kann Handke nicht mehr arbeiten.« Was war passiert?
Das wissen die Götter, ich nicht. Verbrecher? Mir fällt dazu nichts ein.
Sie haben Handke nie gefragt?
Nein.
Nach ein paar Jahren mit einem anderen Lektor kehrte Handke zu Ihnen zurück. Später feuerte er Sie zwei weitere Male, um am Ende doch wieder bei Ihnen zu landen. Warum diese seltsame Treue?
Soll ich jetzt arrogant sein?
Weil Sie der Beste sind?
Nein, nein, nein, weil ich, im übertragenen Sinn gemeint, der Anschmiegsamste bin. Oder, wie Ihr Kollege Willi Winkler geschrieben hat, der große Dulder.
Sie waren Zeuge, als Martin Walser und Uwe Johnson sich 1980 in einem Restaurant in der Frankfurter Fressgass endgültig zerstritten: Johnson mokierte sich über Walsers neue Armbanduhr, die ihm zu protzig erschien. Walser nahm sie ab, reichte sie Johnson, und der schleuderte sie mit großer Geste durchs Lokal.
Nachdem Walser zu Tode beleidigt abgerauscht war, drehte sich Johnson zu mir um und sagte: »Ich hoffe, Sie schreiben kein Tagebuch.« Er fürchtete, dass die Szene für die Nachwelt festgehalten wird. Wurde sie auch. Sie ist relativ unbearbeitet in Walsers Roman Brief an Lord Liszt eingegangen.
Ist Walser Ihnen gegenüber auf den Eklat zurückgekommen?
Nein. Die Leute reden mit mir über solche Szenen nicht, auch dann nicht, wenn es ein Zerwürfnis zwischen ihnen und mir gibt. Vielleicht bin ich in deren Wahrnehmung ein tumber Trottel mit Elefantenhaut. Hat Handke nicht mal über mich geschrieben, ich sei ein Tölpel?
Der Verleger Michael Klett erzählte über den Schriftsteller Ernst Jünger: »Wenn etwas Schlimmes geschah – als seine Frau starb, als sich sein Sohn erschoss –, war sein Hemd am linken Arm immer völlig blutig. Er trug stets eine Nadel unter dem Revers. Und wenn eine Schmerzwallung in ihm hochkam, hat er sich diese Nadel in den Unterarm gestochen, durch das Jackett hindurch, um sich vom psychischen Schmerz durch einen physischen abzulenken.« Gibt es solche Schriftsteller noch?
Nein. Dieses Soldatentum gegenüber seelischem Schmerz ist trotz allem Pose. Um ausnahmsweise wieder mal auf Bernhard zu sprechen zu kommen: Ohne seine fast ununterbrochen lebensbedrohenden Krankheiten gäbe es sein Werk nicht.
Was fällt Ihnen als Lektor leichter: loben oder kritisieren?
Wenn das Manuskript schlecht ist, weiß jeder erfahrene Lektor, was er sagen soll: Hier hängt der Spannungsbogen durch, und die Person A müsste mehr Konturen bekommen. Das kriegt man zur Not nachts um vier nach einem Kasten Bier hin. Schwierig wird es, wenn das Manuskript gut ist. Wenn Sie etwas von einem Meisterwerk stammeln, fühlt sich der Autor für dumm verkauft. Er will genau wissen, was so gut ist.
Sie sagen, Lektoren seien »Arschkriecher«. Warum?
Weil ich so weit wie möglich in den Autor hineinschlüpfen muss. Ich darf in einem Manuskript von Andreas Maier nicht mit einem Thomas-Mann-Komplex herumfuhrwerken. Bei Maier soll man Maier kriegen.
Lektorieren Sie auch Schriftsteller, die Sie aufgrund persönlicher Bekanntschaft für Kotzbrocken halten?
Natürlich. Welcher Schriftsteller ist kein Kotzbrocken?
Sind Sie mit Autoren befreundet?
Bei jüngeren Autoren wie Ralf Rothmann, Albert Ostermaier oder Andreas Maier ist privater Umgang und Lektorat benachbart. Identisch darf das nicht sein, dann würden Biss und Widerstand fehlen. Wenn einem Autor keine Vorwürfe mehr zu seinem Lektor einfallen, sollte er sich einen neuen suchen.
Schriftsteller von Rang sind hypochondrische Totalegozentriker. Suchen solche Charaktere nicht eher Trabanten als Freunde?
Da gibt es viele Politiken. Handke stellt mich heute als seinen Lektor und Freund vor, aber das kann sich jederzeit ins Gegenteil verkehren. Dann bin ich wieder der Verbrecher. Bei Unseld konnte man beobachten, dass er eine Strategie der Freundschaft betrieb, um Konflikte mit seinen Autoren einzudämmen. Deshalb lag ihm daran, möglichst früh per Du zu sein. Selbst mit Max Frisch, der im Innersten nur Peter Suhrkamp vertraute, war er per Du. Nur mit einem hat er es nicht geschafft. Das war Thomas Bernhard.
Der Beruf des Lektors entstand um 1900. Was wäre aus Goethe noch alles geworden, hätte er einen professionellen Lektor gehabt?
Wäre man richtig streng, müsste man aus heutiger Sicht sagen: Wilhelm Meister? Oh Gott, so bitte nicht! Da muss die Hälfte raus.
Neue Mitarbeiter bei Suhrkamp hören von Kollegen die Warnung: »Gehen Sie bloß nicht zum Fellinger! Wenn Sie eine Zugfahrkarte als Reisespesen einreichen, schreibt er Ihnen den Text auf der Fahrkarte um.«
Der kleinformatige, pingelige Blick ist eine typische Berufskrankheit. Muss so sein. Die beiden Grundgesetze des Lektors lauten: Es geht besser! Und: Immer das Schlimmste annehmen, nämlich dass alles falsch ist.
Können Sie morgens am Küchentisch Ihrer Frau zuhören, ohne sie im Stillen zu redigieren?
Mit der Frage habe ich gerechnet. Ich muss sie wohl mit Nein beantworten.
Weiß Ihre Frau das?
Ja. Wenn Sie pingelig sind, neigen Sie zur Überreaktion. Man ist stachelbewehrt wie der Igel.
Gibt es Sprachmarotten, die Sie in den Blutrausch treiben?
Ja. Wenn im Privaten jemand zum wiederholten Mal »naturgemäß«, »sozusagen« oder »ein Stück weit« sagt, schreite ich ein. Bei der Einleitung »Darf ich Sie mal was fragen?«, antworte ich: »Bitte nicht!« Wenn jemand zwei Sätze hintereinander mit »Ich« beginnt, ist es vorbei. Dann zitiere ich Adorno: »Ich kann jeder sagen.«
Schwärmt Ihre Frau für schnelle Autos und Großwildjagd, oder schauen sich bei Ihnen zu Hause zwei Menschen ab und zu über Buchdeckel an?
Auch über Zeitungsseiten. Meine Frau ist gelernte Antiquariatsbuchhändlerin und arbeitet seit 1973 am Institut für deutsche Literatur und ihre Didaktik an der Universität Frankfurt.
Über welches Buch hat sich das Ehepaar Fellinger mal heillos in die Haare gekriegt?
Nur der jüngste Fall: Vea Kaiser, Blasmusikpop.
Sie sagen, man erkenne einen guten Lektor daran, dass es für ihn einen gravierenden Unterschied bedeuten muss, ob der zweite Satz eines Buches lauten soll: »Der Mann, von dem ich hier erzählen will, wurde geweckt von einem gewaltigen Donnerschlag.« Oder: »Den Mann, von dem ich hier erzählen will, weckte ein gewaltiger Donnerschlag.« Oder: »Der Mann, von dem hier erzählt werden soll, wurde geweckt von einem gewaltigen Donnerschlag.« Können Sie dieses Sensorium abschalten, wenn Sie im Urlaub unter Palmen mit einem Gin Tonic in der Hand einen Krimi lesen?
Natürlich nicht. Wenn ich auf Seite neun einen falschen Genitiv entdecke, habe ich keine Lust weiterzulesen.
Ahmt bei Ihnen das Leben die Literatur nach?
Dieses Gefühl habe ich sehr oft. Im Verlag sage ich das auch. Dann bekomme ich von Kollegen zu hören: »Was Sie da sagen, hat Arno Schmidt schon behauptet.« Damit wird doch mein Gefühl bestätigt, oder irre ich mich?
Robert Schneiders Roman Schlafes Bruder wurde von 24 Verlagen abgelehnt. Ihr ehemaliger Suhrkamp-Kollege Thorsten Ahrend hat daraus 1992 bei Reclam in Leipzig den deutschen Bestseller des Jahrzehnts gemacht. Wer gehört zu Ihrer Trophäensammlung?
Da fallen mir Ulrich Beck und Peter Sloterdijk ein.
Daniel Kehlmann erzählt, dass ein fertiger Roman von ihm nie veröffentlicht wurde, weil sein Lektor ihm nach der Lektüre des Manuskripts einen Brief geschrieben hatte, der mit den Worten »Ich bin entsetzt« begann. Gibt es Bücher berühmter Autoren, die wegen Ihrer Einwände nie erschienen sind?
Ganz viele. Das beginnt, alphabetisch gedacht, bei Beck und geht bis Walser. Wenn ich es richtig erinnere, war es bei Walser eine erste Auseinandersetzung mit Marcel Reich-Ranicki, also ein erster Versuch, der im wievielten Versuch auch immer zu Tod eines Kritikers mutierte.
Zu den Mythen der Verlagswelt gehört der Stapel mit den unverlangt eingesandten Manuskripten. Welcher Suhrkamp-Autor ist so entdeckt worden?
Ulrich Beck und der Ex-Suhrkamp-Autor Norbert Gstrein.
Der 1980 gestorbene Medientheoretiker Marshall McLuhan war ein ungeduldiger Leser. Jedes neue Buch, das er in die Hand nahm, schlug er auf Seite 69 auf, und wenn die ihn nicht beeindruckte, las er es nicht. Mit welcher Technik prüfen Sie Manuskripte?
Nach zehn Manuskriptseiten weiß ich Bescheid. Wenn ich doch mal Zweifel habe, blättere ich auf Seite vierzig vor und lese noch mal zehn Seiten.
Der Verlagsgründer Peter Suhrkamp hat Die Blechtrommel von Grass abgelehnt. Was sind Ihre Irrtümer?
Unter ökonomischer Perspektive war es falsch, Empört Euch! von Stéphane Hessel abzulehnen. Ich konnte den Text nicht ausstehen. Hätte ich geahnt, dass das Buch so ein Bestseller wird, hätten wir es natürlich trotzdem ins Programm genommen.
Suhrkamp hat Der Name der Rose von Umberto Eco abgelehnt. Ihre Entscheidung?
Nein. Wir hätten das Manuskript für 15 000 Mark haben können, aber Unseld wollte nur 12 000 bezahlen. Der Hintergrund war, dass wir zwei Bücher von Eco in unserem Wissenschaftsprogramm hatten. Von denen hatten wir nur achthundert Stück verkauft. Da stellte sich die Frage: Wie kommt ein Semiotik-Professor dazu, einen Roman zu schreiben und so viel Geld zu verlangen? Das war Pech.
Hat jemand bei Suhrkamp den Roman gelesen, bevor die Absage verschickt wurde?
Eher nicht.
Als Max Frisch 1963 ein Manuskript bei Suhrkamp einreichte, wünschte er sich den Titel Lila oder Ich bin blind. Unseld sagte »Max, also bitte« und machte daraus Mein Name sei Gantenbein. Ist Ihnen mal ein ähnlicher Treffer gelungen?
Sicher, zum Beispiel Becks Risikogesellschaft.
Sloterdijks zweibändiges Debütwerk hieß Kritik der zynischen Vernunft. Ist Ihnen dieser Titel eingefallen?
Nein, Sloterdijk. Unter Kant geht bei ihm ja nichts.
Der englische Schriftsteller Julian Barnes schreibt, er habe jahrelang die Finger von J. D. Salingers Der Fänger im Roggen gelassen, weil er dachte, »das sei ein Baseball-Roman, der in der Prärie spielt«. Bei welchen Titeln fangen Sie gar nicht erst zu lesen an?
Mich schrecken vor allem unerotische Kopulationstitel ab, die mit »und« oder mittels Genitivkonstruktion arbeiten, also Der Regen des Schmerzes. Titel sollten, das hören die in unserer Marketingabteilung nicht gern, in die Irre führen, einen befremdlichen Charakter besitzen und zugleich das Zeug haben, in die Umgangssprache einzugehen. So viel zu den paradoxen Aufgaben bei der Titelfindung.
Welcher Roman geht mit einem perfekten ersten Satz los?
Aus einer endlichen Zahl herausgegriffen: »Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen.« Das ist aus Uwe Johnsons Mutmaßungen über Jakob. Perfekt in seiner Lakonie, die gleichzeitig den Roman in nuce enthält.
In Ken Folletts Weltbestseller Die Nadel verliert ein Mann bei einem Autounfall beide Beine. Ein paar Szenen später heißt es, er wärme seine Füße am Kaminfeuer. Haben Sie beim Lektorieren vergleichbare Klopfer übersehen?
Mehrere. In einem zweibändigen Werk über den RAF-Terrorismus habe ich nach der Veröffentlichung einen Tippfehler entdeckt. Statt Autobombe hieß es Atombombe. Dem Autor ist das leider aufgefallen. Bei Amos Oz ist mir im Klappentext zu Judas ein wahnsinniger Lapsus unterlaufen. Im Roman schreibt eine der Hauptpersonen eine Arbeit über Jesus, im Klappentext der ersten Auflage schreibt der Mann über Judas, was angesichts des Romanthemas nicht unheikel war. Das hat aber bis heute kein Schwein gemerkt. Ich will nicht kulturkritisch werden, aber Ihren Journalistenkollegen fällt nichts mehr auf, gar nichts. Ich übertreibe, aber nur wenig.
Heinz Ludwig Arnold, der Lektor von Friedrich Dürrenmatt, erzählte: »Bei Dürrenmatt musste man immer gewärtig sein, dass nachts um drei das Telefon klingelte und er ohne irgendeine Einleitung fragte: Sag mal, wie hieß eigentlich der Flugzeugträger, der damals in der Bucht von Tonking die ersten Schüsse auf Vietnam abgegeben und damit den Vietnam-Krieg angezettelt hat?« Erleben Sie das auch?
Wenn man gut ist als Lektor, ist man auch ein außerordentlicher Privatsekretär, aber solche Anrufe sind weniger geworden. Ich sage nur: Wikipedia. Früher gab es den Mythos des angeblich enzyklopädisch gebildeten Lektors. Walter Boehlich glaubte noch, so auftreten zu müssen, dass gesagt wurde: »Schlag nach bei Boehlich!« Wolf Jobst Siedler war ein ähnlich gelagerter Fall. Schlag nach bei Fellinger? Hören Sie auf!
Man hört von Schriftstellern so gut wie nie Sätze wie: »Ursprünglich hatte mein Roman eine achtzig Seiten lange Exposition, aber die hat mir mein Lektor ausgeredet.«
Lektoren sind Schattenexistenzen, ihr Tun wird beschwiegen. Diese Diskretion ist richtig. Wer darunter leidet, dass nur ein paar Kollegen seinen Namen kennen, sieht sich nach etwas anderem um.
Immer mehr Lektoren lassen ihren Namen in die bibliografischen Angaben vorn im Buch schreiben.
Na ja, jeder soll seine Eitelkeit so blamieren, wie er will. Es gibt ja auch den Typ Lektor, der nach der zweiten Flasche Rotwein über ein hochgelobtes Buch posaunt, er müsse eigentlich als Ko-Autor genannt werden, weil fünfzig Prozent des Geschriebenen von ihm seien.
Bei angelsächsischen Autoren ist es gängige Praxis, am Ende des Buches dem Lektor für sein segensreiches Wirken emphatisch zu danken.
In den USA danken Autoren momentan jedem, der mal ein Komma gesetzt hat. Bei unseren jüngeren Autoren kommt das leider auch in Mode. Dahinter steckt die Angst, dass ein x-beliebiger Bekannter sagen könnte: »Warum hast du mich nicht erwähnt?« Dankkultur bringt es nicht. Wenn mich einer in seine Danksagung reinschreiben will, sage ich: »Wie kommen Sie dazu, mich erwähnen zu wollen? Ich erlaube das nicht.«
Ein Kalauer Ihrer Zunft lautet: »Das einzige Vermögen, mit dem Lektoren punkten können, ist das Durchhaltevermögen.« Stimmt das Klischee, dass Lektoren Hungerlöhne gezahlt werden?
Die Gehälter sind mal raufgegangen und gehen jetzt wieder runter. Wenn man weiß, dass Übersetzer aus dem Englischen und Französischen für 1800 Anschläge zwölf Euro bekommen, begreift man, wohin die Reise noch gehen kann. Wie es ist, wenn man das Lektorat ganz abschafft, können Sie an Krimis aus den Großverlagen sehen.
Berührt Sie Literatur nach 37 Berufsjahren noch wie am ersten Tag, oder haben Sie Anfälle von Fiktionsekel?
Wenn Sie mir jetzt damit kommen, ein Buch müsse die Axt sein für das gefrorene Meer in uns, kann ich nur sagen: Wer so liest als Lektor, sollte auf der Stelle den Beruf wechseln. Ich muss doch Distanz haben zu einem Text. Es geht um Analytik und nicht um Betroffenheit, wie man heute sagen würde.
Stärkt Lektüre durch Einsichten, oder schwächt sie, indem sie Selbstzweifel sät?
Selbstzweifel sind immer gut. Man nutzt doch Literatur, um sich als Leser in Frage zu stellen. Wer im Umgang mit der Literatur keine Ironie gelernt hat, dem ist im Leben nicht mehr zu helfen.
Dieses Jahr erreichen Sie mit 65 die Pensionsgrenze. Was wird sich in Ihrem Leben ändern?
Vermutlich gar nichts. Aber auf keinen Fall möchte ich Helene Ritzerfeld nacheifern, der ersten Angestellten des Verlags. Die ist mit 86 in den Suhrkamp-Sielen gestorben.
Fotos: Urban Zintel