SZ-Magazin: Herr Testino, Bücher über Rio de Janeiro gibt es wie Sand an der Copacabana. Warum haben Sie jetzt auch noch eins gemacht?
Mario Testino: Um den wahren Ma-Rio zu zeigen! Als ich irgendwann merkte, dass der Name in meinem enthalten ist, war das wie ein Auftrag für mich.
Was bedeutet Rio für Sie?
Kein anderer Ort besitzt diese Energie, höchstens noch Neapel. Rio ist die körperlichste Stadt, die ich kenne. Weil es einfach immer heiß ist, im Sommer wie im Winter. Da bleibt einem nichts anderes übrig, als sich die Kleider vom Leib zu reißen. Ich war 16 Jahre alt, als ich 1970 mit meiner Familie im Urlaub hierherkam. Liebe auf den ersten Blick?
Ja, und es blieb eine große Leidenschaft bis heute. Ich verbringe jedes Jahr einige Wochen in Rio, schon seit 1973. Damals wurde die Stadt zum Mittelpunkt der High Society. Die Concorde flog hin, es gab eine Dependance von »Régine’s«, dem Pariser Nachtclub, und die Feste waren die mondänsten und wildesten. Was ich an Rio so schätze, ist, wie sich alles mit allem mischt. Man kann jede Identität annehmen, sogar sein Geschlecht wechseln. Der Karneval ist der größte melting pot der Welt. Rio hat mich befreit.
Was fehlte Ihnen in Lima, Ihrer Heimatstadt, zur Freiheit?
Auch wenn alle Europäer dabei an die Inkas denken – Peru ist ein sehr katholisches, konventionelles Land. Es gab eine Zeit, da wollte ich sogar Priester werden.
Wie sind Sie aufgewachsen?
Mit fünf Geschwistern. Ich hatte eine sehr glückliche, großzügige Kindheit. Mein Vater war Geschäftsmann, wir reisten viel. Ich ging auf ein englischsprachiges Gymnasium und mochte Mathematik. Später studierte ich Jura und Wirtschaft, aber das hatte nichts mit mir zu tun. In Peru werden wir dazu erzogen, uns an Normen anzupassen: Je mehr wir sie erfüllen, desto erfolgreicher sind wir. Ich merkte jedoch früh, dass ich ganz anders denke. Das Leben ist dazu da, Zwänge loszuwerden, um Neues zu finden.
Es kann sich aber nicht jeder Risikobereitschaft leisten.
Und das ist traurig. Die Menschen haben im Lauf ihres Lebens so viel mit Einschränkungen zu kämpfen. Dabei sollte man sich doch öffnen. Das habe ich übrigens durch die Kunst gelernt.
Sie sammeln seit rund zwölf Jahren Kunst. Wie kamen Sie dazu?
Durch die Londoner Galeristin Sadie Coles. Sie hat mir buchstäblich die Augen geöffnet. Durch sie habe ich verstehen gelernt, was Sehen bedeutet.
Können Sie es erklären?
Was wir sehen oder nicht, hat viel mit dem zu tun, was wir sehen wollen. Ich habe gemerkt: Gerade die Arbeiten, die ich ablehnte, waren jene, die mich wachsen ließen, als ich mich mit ihnen auseinandersetzte. Tja, und als ich sie dann endlich verstanden hatte, waren einige von ihnen schon zu teuer.
Von welchen Künstlern haben Sie etwas für Ihre eigene Arbeit als Fotograf gelernt?
Richard Prince, John Currin, Karen Kilimnik, Anselm Reyle, Andreas Hofer, Andreas Slominski und und und. Durch sie habe ich begriffen, dass man sich selbst fordern muss, immer wieder. Irgendwann werde ich zum Dank ein Buch über mein Leben in der Welt der Kunst machen.
Eigentlich sind Sie ja als der Fotograf berühmt geworden, der völlig verrückt nach Mode ist.
Stimmt. Auch wenn ich sie nicht fotografiere, beobachte ich sie unaufhörlich. Im Gegensatz zu anderen Fotografen, die eher den Lifestyle suchen oder die Mädchen oder das Geld.
Welche Art von Schönheit fasziniert Sie?
Als ich Ende der Siebzigerjahre zu fotografieren anfing, war Bruce Webers Stil allgegenwärtig: der »Clean Chic« der amerikanischen Girls à la Grace Kelly. Ich dagegen habe eher die dekadente, etwas rauere Schönheit gesucht.
Auch: erotische Schönheit?
Genau, und die habe ich nicht in den Modelagenturen gefunden, sondern auf der Straße. Die Frau, die gostosa ist, verführerisch, weil sie Hüften hat und Busen und warme Haut. An der man am liebsten knabbern würde.
Aber das ideale Model sieht völlig anders aus.
Weil Kleider flache Silhouetten brauchen und keine breiten Hintern! Sonst kommen sie nicht zur Geltung. Wenn Sie nach einem Model suchen, das Sie anziehen wollen, wählen Sie das dünne große Mädchen, wenn Sie aber nach einem suchen, das Sie ausziehen wollen, nehmen Sie das kleinere mit den Kurven.
Gisele Bündchen hat beides. Wann haben Sie sie entdeckt?
Anfang der Neunzigerjahre bei einem Casting in New York. Sie hat mich sofort an meine Jugend erinnert – und an Rio: so herzlich, so lebenslustig. So echt. Und genau darum geht es mir bei jedem Foto, um jene Zehntausendstelsekunde, in der das magische Bild gelingt. Deshalb habe ich auch gelernt, mit zwei Kameras gleichzeitig zu arbeiten und wie ein Cowboy aus der Hüfte zu schießen. Ich will Bilder, die Frauen und Männer aus Fleisch und Blut zeigen, bei denen man spürt, wie sie atmen.
Sie engagieren sich seit einiger Zeit für wohltätige Zwecke. Ist das der Priester in Ihnen?
Lustige Vorstellung. Ja, vielleicht ein bisschen. Jedenfalls wurde mir klar, dass ich etwas zurückgeben muss. Seitdem engagiere ich mich in der Kinderkrebshilfe, im Kampf gegen Aids und für die Blindenhilfe. Manchmal muss man nur wenig tun, um viel zu erreichen. Bei Elton Johns letzter Charity-Auktion brachte ein Porträt von mir 1,8 Millionen Pfund! Es ist befriedigend, Gutes zu tun – sogar ein wenig selbstsüchtig: Wenn du dich gut fühlen willst, gib anderen. Das gilt sogar für den Konsum: Ausgeben schafft Einkommen.
Mario Testino, 55, gilt als einer der begehrtesten Modefotografen der Welt. Die Fotos auf diesen Seiten sind in dem Bildband MaRIO DE JANEIROTestino zu sehen. Er erscheint am 12. Oktober im Taschen Verlag.
Allen, die den quirligen Testino in seinem Element erleben wollen, empfiehlt die Autorin Eva Karcher den Film "The September Issue": In der Dokumentation über Anna Wintour, der Chefin der amerikanischen Vogue, hat Testino ein paar starke Auftritte.
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