Mehr Stolz!

Nichts ist älter als der Jugendwahn. Ab sofort muss klar sein: Wer mehr vom Leben versteht, kann, darf und soll das auch zeigen. Ein Brief von Generation zu Generation.

Mein liebes Kind,

dass ich weder Carmen Dell`Orefice, das 60-jährige Model, noch die Barbiepuppe, hast du schnell gemerkt. Warum ich dir schreibe, hat dennoch mit beiden zu tun. Du glaubst sicher, ich wünsche mir so zu sein wie die elegante Frau Dell`Orefice mit ihren weißen Haaren? »Natürlich« würde ich sofort sagen und machte doch gleich wieder einen Rückzieher. Sie sieht klug aus und wunderschön und selbstbewusst und auch noch mondän. All das wäre ich wahnsinnig gern.

Und dennoch, der Wahrheit eine Gasse, um etwas Wesentliches beneide ich sie nicht: um ihr Alter – sie ist älter als ich. Ich schäme mich für diesen Gedanken. Zu Ende gedacht bedeutet er nämlich: Jugend allein gilt mehr als Klugheit, Schönheit, Selbstbewusstsein und Eleganz zusammen. Was nach Schwachsinn klingt, ist der Geist der Zeit.

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Nicht mehr lang. Denn bald sind wir alle alt. In zehn Jahren wird die Hälfte der Deutschen über fünfzig sein. Und schon glaube ich die Stimmen zu hören, die sagen: Mit fünfzig ist man heute doch nicht mehr alt. Kürzlich wurde mir klar: Es stimmt. Davon wollte ich dir erzählen.

Ich war in einem Café verabredet und zu früh dran. Ich fühlte mich fehl am Platz: Um mich rum nur Menschen so alt wie du, um die zwanzig. Vermutlich haben sie mich ja gar nicht beachtet, dennoch habe ich mich gefragt, ob sie wohl denken: Was macht denn die hier? Ob sie mitleidig zu mir herüberschauen, weil ich nach ihren Maßstäben uralt bin und sie blutjung? Fühlen sie sich mir deswegen vielleicht überlegen? Da passierte etwas Merkwürdiges: Ich lehnte mich zurück und begann zu lächeln.

Ich hätte gern zu all den jungen Leuten gesagt: Den Job, den ihr wollt, habe ich. Das Auto, das ihr euch nicht leisten könnt, fahre ich. Den Sex, von dem ihr träumt, habe ich. Der Mann, den ich liebe, liegt nachts neben mir. Und ihr? Heute Nacht wieder mal allein gewesen? Und wenn nicht, Bauch eingezogen, um dünn zu wirken? Kann mir nicht mehr passieren.

Die Wohnung, die euch vorschwebt, bewohne ich. Das Selbstbewusstsein, nach dem ihr euch sehnt, habe ich mir längst erkämpft.  Die Kleider, die ihr nur in Zeitschriften anschaut, trage ich. Ihr sucht, ich bin angekommen. Sicher, eure Haut ist straffer und eure Träume und Hoffnungen sind von der Wirklichkeit noch nicht eingeholt.

Mein liebes Kind, fragst du mich, ob ich noch mal zwanzig sein möchte, müsste ich lügen, würde ich behaupten, die Sehnsucht, noch mal jung zu sein, nicht zu kennen. Und dennoch, dennoch würde ich antworten: nein. Ich wäre nur dann gern noch mal zwanzig, wenn ich all das wüsste, was ich heute weiß. Aber weil das eine nicht ohne das andere geht, ziehe ich das Wissen der Jugend vor.

So, und nun hol deine alte Barbie raus; hast du gelesen, die wird jetzt fünfzig. Wir nehmen ihr das rosa Pferd und die billigen Fummel weg, die ihren Knallbusen betonen, das juckt mich schon lang in den Fingern. Wir stecken sie in Kleider, die zu ihrem Alter passen, die sie nicht lächerlich machen. Halt, die Alternative zu ihrem Minirock heißt nicht: beigefarbener Popelinemantel mit passendem Regenhütchen und Luftpolsterschuhen, sondern »dress your age«.

Zieh dich so an, dass man dir weder zu Stützstrümpfen rät beim nächsten Einkauf noch dir hinterherruft: »Hinten Lyzeum, vorne Museum!« Also: Zieh dich einfach gut an.

Foto: Franziska von Stenglin