Fehlt da was? Nein, eben nicht!
Sie hat genau 167,61 Euro gebracht. Ernüchternd. Im Laden hatten sie mir gesagt, 200 seien drin, vielleicht sogar 250. Dabei ging es um eine E-Gitarre, die Zigtausende hätte bringen müssen! Wenn man nach dem Wert gegangen wäre, den sie mal für mich hatte. Mit dieser Gitarre in der Hand hatte ich davon geträumt, Popstar zu werden. Sie war ein Symbol gewesen für den großen Traum, vom ultimativ anderen, aufregenderen Leben. Rock ’n’ Roll, baby. Aber das konnten die Leute da draußen ja nicht wissen, als ich sie bei Ebay anbot, da war es nur eine E-Gitarre von Squier, Modell Telecaster, nichts Halbes, nichts Ganzes. Squier ist eine Tochterfirma des berühmten Gitarrenbauers Fender und stellt günstige Kopien der Fender-Instrumente her. Das ist so, als würde Mercedes unter anderem Namen billige S-Klasse-Imitationen anbieten.
Aber damals, vor über zwanzig Jahren, hatte das für mich völlig gereicht, ich war noch ein Teenager, die Gitarre kostete nicht viel, war dottergelb lackiert und sah gut aus. Wir waren zu viert und gründeten eine Band. Zwei Gitarren, Bass, Schlagzeug, wir probten fleißig und schrieben eigene Lieder in mittelmäßigem Englisch. Bei den ersten Auftritten auf Kleinbühnen und in engen Clubs jubelten die Zuhörer, bald kamen mehr Leute, die Konzerte wurden größer, Freunde schwärmten, aus uns werde bestimmt was Großes, wir nahmen eine CD auf und wurden auf der Straße von Fans angesprochen, ein paar Mal traten wir im Fernsehen auf. Uns war klar: Der Durchbruch steht unmittelbar bevor. Abendelang saßen wir beisammen und sprachen über die Zukunft, die fast greifbar schien: Nur noch ein paar Meter, dann beginnt die Welttournee, dann werden wir Stars, auf uns warten Stadionauftritte, goldene Schallplatten, Groupies.
Natürlich wartete niemand. Der Schlagzeuger zog in eine andere Stadt, die anderen fingen an zu streiten, die Bühnen blieben immer dieselben, und wir mussten unsere Verstärker weiterhin selber schleppen. Uns ging die Puste aus. Und auf einmal war alles vorbei, schneller, als jemand one, two, three, four einzählen kann.
Ewig her. Höchste Zeit, die Gitarre loszuwerden. Es ist ja damals sowieso anders weitergegangen mit meinem Leben, ich arbeite seit Jahren, verdiene Geld, habe eine Monatskarte für die U-Bahn und rauche nicht mal mehr, alles in Ordnung. Der Traum vom Popstarleben ist längst ausgeträumt. Sich von alten Dingen zu trennen ist gesund, man muss das unbrauchbare Zeug loswerden wie Kleidungsstücke, die nicht mehr passen, aufräumen mit der Vergangenheit. Oskar Matzerath wirft die Blechtrommel ins Grab seines Vaters – und verabschiedet sich endlich von seiner Protestphase. Am Ende von Titanic wirft die steinalte Rose das Diamantencollier, Sinnbild ihrer Lebensgeschichte, ins Meer. Und in Henry Roths vor Kurzem erschienenem Roman Ein Amerikaner verkauft ein junger Schriftsteller das Auto, das sein ganzer Stolz ist – um endlich unabhängig zu werden.
Warum heben wir überhaupt so viel Zeug auf? Vor Kurzem habe ich ein Interview mit einem Psychologen gelesen, der sagte: »Lange aufgehobene Dinge sind mit nicht erfüllten Sehnsüchten besetzt. Wir halten daran fest, um den Abschied zu vermeiden, unsere wärmenden Illusionen nicht zu verlieren.«
Hätte es damals zu einer großen Karriere gereicht? Vielleicht, vielleicht nicht, wer weiß das schon. Nachdem die Band sich damals aufgelöst hatte, schaute der Traum immer mal wieder vorbei wie ein Freund aus anderen Zeiten, die Gitarre nahm ich nur noch in die Hand, um sie abzustauben, dann spielte ich einen Akkord, lauschte dem Nachschwingen der Saiten und dachte kurz: Wäre Popstar damals doch eine Option gewesen? Eine kleine Flucht in Gedanken. Aber auch die verblasste mit den Jahren völlig.
Als das Ende der Ebay-Auktion näher kam, meldete sich der Traum noch ein letztes Mal. Ich sah den steigenden Geboten zu und machte mir Vorwürfe: Auf der Gitarre hast du ein paar richtig schöne Lieder geschrieben! Mit der Gitarre bist du vor Tausenden von Leuten aufgetreten! Mit der Gitarre hast du dich oft so gut gefühlt, so stark, so lässig … Und jetzt soll sie im Wohnzimmer eines Fremden stehen? In den letzten Minuten dachte ich darüber nach, schnell noch einen Freund zu bitten, er möge die Gitarre für mich ersteigern. Aber ich ließ es sein. Drei, zwei, eins, weg.
Mir hat mal jemand erklärt, wenn man sich nicht entscheiden kann, ob man etwas wegwerfen soll oder nicht, dann müsse man einfach folgende zwei Punkte prüfen: a) Hätte ich es überhaupt gemerkt, wenn mir der Gegenstand geklaut worden wäre? b) Hätte ich ihn mir neu gekauft, wenn er weg wäre? Das funktioniert tatsächlich ziemlich gut. Ich muss aber zugeben: Nach diesen Kriterien könnte ich fast alles wegwerfen, was ich besitze – ausgerechnet meine alte E-Gitarre hätte ich dagegen behalten müssen. Ich werde mir wohl irgendwann eine neue kaufen. Aber die hat dann nichts mehr mit den Träumen des 20-Jährigen von einst zu tun. Die ist einfach nur zum Spielen. Anderes Leben, anderes Instrument.
Foto: Sorin Morar, bungo / photocase.com, markusspiske / photocase.com