"Mir haben die Beethoven-Muskeln gefehlt"

Um ein großer Pianist zu werden, muss man härter trainieren als jeder Leistungssportler. Lang Lang kann ein Lied davon spielen.


SZ-Magazin: Lang Lang, ich freue mich, dass Sie mir gerade die Hand geschüttelt haben.
Lang Lang:
Sie sind der Erste heute, deshalb geht’s. Aber ich achte schon darauf, nicht zu viele Hände zu schütteln. Vor allem nach einem Konzert, wenn meine Finger müde sind.

Hat Ihnen da schon mal jemand die Finger gequetscht?
Klar. Sie haben so schön gespielt, sagen die Leute. Und pressen dabei minutenlang meine Hand zusammen. Aua! Bitte beschreiben Sie Ihre Hände.
Sie sind sehr weich. Das hat Vorteile und Nachteile: Ich bin sehr flexibel und kann deshalb vieles machen auf dem Klavier. Manchmal braucht man aber einen kräftigen, soliden Anschlag – besonders beim deutschen Repertoire. Für diesen Klang musste ich hart arbeiten.

Wie sorgsam gehen Sie mit Ihren Händen um?
Ich bin nicht übertrieben fürsorglich, aber ich passe auf, mich nicht zu verletzen. Ich schäle keine Früchte und trage auch keine schweren Sachen. Pianist zu sein ist eine gute Entschuldigung, um keine anstrengende Arbeit zu machen. Manchmal bitte ich sogar die Stewardessen im Flugzeug, meine Tasche ins Fach zu hieven, hehe.

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Sind Ihre Finger empfindlich?
Ja, Kälte oder Feuchtigkeit mögen sie gar nicht. Aber sobald ich mich warmgespielt habe, ist das kein Problem mehr.

Wie alle herausragenden Pianisten haben Sie schon allein deshalb eine intensive Beziehung zu Ihren Fingern, weil Sie Zehntausende Stunden mit Üben verbracht haben.
Beim Klavierspiel muss man viel nachdenken, aber das ist beileibe nicht alles: Man muss die Musik, die man sich vorstellt, auch aus den Tasten herausholen können. Der Weg zum eigenen Klang führt übers Üben. Da kommt keiner drum herum. Wenn man dazu keine Lust hat, muss man Komponist werden. Oder Dirigent.

Macht es Spaß, stundenlang Tonleitern zu spielen?
Ich glaube, das macht niemandem großen Spaß – vor allem nicht den Nachbarn. Aber das sind die Grundlagen, und die sind essenziell. Das Ziel bei Tonleitern besteht darin, völlig gleichmäßig zu spielen: je mechanischer, desto besser. Am Anfang einer Pianistenkarriere muss man zur Maschine werden. Die Hände müssen wie Sportler sein, die komplizierte Übungen mit höchster Präzision ausführen. Das ist dann noch keine Musik, aber die Grundlage dafür.

Mussten Sie als Kind zum Tonleiterspielen gezwungen werden?

Ein heikler Punkt. Als Kind möchte man all diese schönen Stücke spielen – und soll stattdessen anderthalb Stunden Tonleitern üben. Da verlieren viele Kinder ihren Enthusiasmus. Ich habe zum Glück schon relativ früh verstanden, dass die Grundlagen dazugehören. Und wenn ich es einmal vergaß, konnte ich sicher sein, dass mich mein Vater daran erinnert.

In Ihrer Autobiografie schreiben Sie über jenen Winter, als Sie als kleiner Junge in einer ungeheizten Wohnung in Peking für die Aufnahmeprüfung aufs Konservatorium übten: »Die Wärme meines Spiels hielt meine Hände warm.«
Üben ist harte Arbeit. Das ist ähnlich wie bei Fußballern. Die spielen ja auch im Winter in kurzen Hosen und ihnen wird trotzdem nicht kalt. Ich habe in diesem Winter auch deshalb so viel geübt, weil mir am Klavier viel wärmer war, als wenn ich in meinem kalten Bett lag. Wir hatten damals nicht mal genug Geld, um ein Heizgerät für unsere Wohnung zu kaufen.

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Über dieselbe Zeit schreiben Sie: »Ich übte, bis mir die Finger wehtaten.«
Wenn man seine natürliche Grenze überschreitet, beginnen Finger und Arme zu schmerzen. Das geht jedem so, der sehr viel übt. Dann muss man dringend eine Pause machen.

Bekommt man vom Üben stärkere Muskeln?

Na klar! Das fiel mir besonders auf, als ich mit 14 von China in die USA zog: Nach einem Jahr bei meinem neuen Lehrer Gary Graffman waren meine Hände und Arme wesentlich kräftiger und ich konnte mein Repertoire erweitern. Vorher hatten mir die Beethoven-Muskeln gefehlt.

Was sind Beethoven-Muskeln?
Um die klassischen deutschen Komponisten, vor allem Beethoven, zu spielen, braucht man kräftige Hände. Man muss nahe an den Tasten sein und sie vehement nach unten drücken. Daniel Barenboim hat mir sehr dabei geholfen, den deutschen Stil zu erlernen. Als Chinese hatte ich anfangs den russischen Stil gelernt, bei dem die Arme durch die Luft wirbeln und der Klang geradezu explodiert, wie bei einem Vulkan. Das ist eine ganz andere Art zu spielen, die natürlich auch andere Ansprüche an den Körper stellt.

Haben Sie sich je mit den biomechanischen Vorgängen beschäftigt, die beim Klavierspiel in Händen und Armen ablaufen?
Ich weiß, dass es in der Hand und im Unterarm erstaunlich viele Muskeln gibt und ich weiß auch, dass eine Menge kaputt gehen kann, wenn man immer nur das 3. Klavierkonzert von Rachmaninow spielt. Oder das 2. von Brahms. Ohne gute Ausbildung sind diese Stücke Selbstmord. Sehr gefährlich! Verletzungen in den Händen und Armen sind der Albtraum jedes Pianisten. Ich hatte 2003 eine Handverletzung, wegen der ich einen Monat pausieren musste. Anfangs fühlte ich mich wie ein Drogensüchtiger auf Entzug.

Wissenschaftler sagen, professionelles Musizieren auf höchstem Niveau sei das Schwierigste, was der Mensch vollbringen kann. Tatsächlich? Es gibt doch so viele komplizierte Tätigkeiten! Basketball zu spielen ist auch sehr anspruchsvoll. Worauf gründet sich diese Einschätzung?

Zum Beispiel auf die Komplexität der Bewegungen: In schnellen Passagen spielen Top-Pianisten bis zu dreißig Töne pro Sekunde. Das bedeutet, dass es in der Hand und im Arm zu 400 bis 600 individuellen Muskelbewegungen in der Sekunde kommt.
Als Kind habe ich gern Zeichentrickfilme geschaut. Da gab es eine Figur mit einem Spezialauge. Der hat jemanden angeguckt, dann einen Knopf gedrückt, und sofort kannte er den IQ dieser Person, ihr Energielevel und so weiter. So kommt es mir auch mit den Wissenschaftlern vor. Sie durchschauen meinen Körper und wissen Dinge über meine Hände, die ich selbst gar nicht weiß.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: "Ich habe keinen Lieblingsfinger.")

Neben den Bewegungsformen bewundern Wissenschaftler auch die zeitliche und räumliche Präzision im Spiel großer Pianisten sowie deren Fähigkeit, Gefühle in die Musik zu legen.
Das ist die Hauptsache. Die beste Technik nützt nichts, wenn man davor zurückschreckt, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Ich kannte Kinder, die noch länger geübt haben als ich – ein paar, nicht viele –, aber aus ihrer tollen Technik letztlich nichts machen konnten. Sie haben keinen eigenen Klang gefunden.

Erklären Sie: Wie geht das?
Das macht klassische Musik so schwierig – und einzigartig. Wenn man jung ist, hat man kaum eine Ahnung, wie man ein Stück interpretieren soll; man spielt es so, wie der Lehrer sagt. Wenn man älter wird, muss man zwischen sich und dem Stück eine Verbindung entdecken, sodass man es auf individuelle Weise interpretieren kann. Dabei kommt erschwerend hinzu, dass alle älteren Stücke schon unglaublich oft gespielt worden sind. Zwischen all den großen Interpreten der Vergangenheit seinen Platz zu finden ist die Herausforderung, vor der jeder junge Pianist steht.

Auf Ihrer neuen CD spielen Sie Chopins 2. Klavierkonzert in F-Moll. Mit demselben Stück haben Sie als Dreizehnjähriger den »Tschaikowsky-Wettbewerb« gewonnen, ihr großer Durchbruch. Spielen Sie das Stück heute, mit 26, anders als mit 13?

Ich habe mir die alte Aufnahme angehört und war überrascht, wie gut mir der 2. Satz immer noch gefällt. Einige langsame Stellen sind mir gut gelungen, und ich mag die schüchterne Klangfarbe, die ich damals hatte. Das Stück handelt ja von Chopins heimlicher und unerfüllter Liebe zu einer jungen Sängerin; die Musik ist sein Liebesbrief. Ich habe damals beim »Tschaikowsky-Wettbewerb« an meine Mutter gedacht, von der ich als Kind oft getrennt war, das hat mir geholfen, das Stück zu interpretieren. Der 3. Satz ist allerdings eine Mazurka, und die habe ich damals nicht wirklich verstanden. Trotz einiger schöner Stellen ziehe ich meine Neuaufnahme der alten Einspielung vor.

Fangen Ihre Finger automatisch an, sich zu bewegen, wenn Sie eine CD mit Klaviermusik hören?
Immer! Und umgekehrt ist es genauso: Wenn ich meine Finger über diesen Couchtisch bewegen würde, als wenn er ein Klavier wäre, würde ich im Kopf den Klang der Tasten hören.

Welcher ist Ihr Lieblingsfinger?
Ich habe keinen. Jeder professionelle Musiker sollte versuchen, in allen Fingern ähnliche Fähigkeiten zu entwickeln. Die drei Ersten sind am kräftigsten. Ringfinger und kleiner Finger sind die schwächeren Brüder, die versucht man zu trainieren. Aber nicht so wie Robert Schumann! Der hat sich eine Trainingsmethode mit Gewichten ausgedacht, die nach hinten losging. Er konnte seinen Ringfinger schließlich gar nicht mehr benutzen und musste seine Karriere als Pianist aufgeben.

Können Ihre Finger komplizierte Stücke eigentlich auch ganz allein spielen, ohne bewusste Steuerung des Gehirns?
Es ist möglich, beim Musizieren an etwas anderes zu denken – aber sehr gefährlich. Denn ein wie im Koma gespieltes Stück bedeutet nichts. Man muss jede einzelne Note bewusst spielen.

Ist das bei hohem Tempo überhaupt noch machbar?

Auch dann sollte man sein Gehirn benutzen; sonst wird man zur Maschine. Der Pianist muss jede einzelne Note zum Leben erwecken; bei hohem Tempo muss man eben besonders schnell denken. Sehr selten passiert es mir allerdings tatsächlich, dass das Gehirn nicht schnell genug ist und die Finger von allein weiterspielen. Diese Jungs sind wie Kämpfer in einem Außenposten: Normalerweise führen sie nur Befehle aus, aber in besonderen Situationen können sie unabhängig agieren.

Verspielen Sie sich eigentlich ab und zu?

Sehr selten. Falsche Noten spiele ich normalerweise nicht, da bin ich ziemlich präzise.

Ich würde es wohl sowieso nicht merken, wenn Sie sich verspielen.
Aber bei Ihrer Zeitung gibt es doch den Herrn Kaiser. Der merkt es ganz bestimmt.

LANG LANG wurde 1982 in Shenyang, Nordchina, geboren und begann mit drei, Klavier zu spielen. Er lernte am Konservatorium von Peking und am Curtis Institute in Philadelphia, USA. Seit seinem Durchbruch im Jahr 1999 ist er einer der erfolgreichsten Pianisten der Welt; so spielte er bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Peking vor einem Milliardenpublikum. Anfang November erscheinen seine Autobiografie »Musik ist meine Sprache« (Ullstein) sowie seine CD »Chopin. The Piano Concertos« (Deutsche Grammophon).

Fotos: Frank Bauer