SZ-Magazin: Wann hat Musik Sie zuletzt zum Weinen gebracht?
Christian Gerhaher: Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt wegen Musik geweint hätte. Als vor einem Jahr mein Vater beerdigt wurde, habe ich geweint.
Was wurde gespielt?
Bach, aber mir kamen nicht wegen der Musik die Tränen, sondern weil mein Vater gestorben war. Die britische Altistin Kathleen Ferrier brach mal auf der Bühne in Tränen aus, als sie Mahlers Lied von der Erde sang, sie wusste damals schon, dass sie an Krebs sterben würde. Danach hat sie sich so geschämt, dass der Dirigent Bruno Walter sie trösten musste.
Können echte Tränen einen Vortrag nicht besonders überzeugend machen?
Echte Tränen gehören nicht auf die Bühne. Glauben Sie mir, wenn ein Sänger davon abhängig wäre, dass er das, was er vorträgt, auch durchlebt, wäre er erstens eine Belästigung für sein Publikum und zweitens sehr gefährdet. Und wie soll man als junger Mensch Schuberts Winterreise begreifen oder als Teenager, der keine Kinder hat, die Kindertotenlieder von Mahler? Trotzdem dürfen diese Musiken für junge Menschen nicht tabu sein.
Wie schaffen Sie es, auf der Bühne nicht von Ihren Gefühlen überwältigt zu werden?
Ganz einfach: Es kommt für mich nicht in Frage. Wenn ich auf einer Bühne stehe und singe, befinde ich mich in einer künstlichen Situation, ich übe einen Beruf aus. Aber verstehen Sie mich nicht falsch: Solange ich die Kontrolle behalte und mich nicht überwältigen lasse, darf ich mich schon von Gefühlen durchfluten lassen – vorausgesetzt, sie kommen aus dem Stück und nicht aus mir. Mein Empfinden ist unwichtig. Es stört sogar.
Warum?
Weil es auf die Idee ankommt, die in einer Musik aufscheint, nicht auf mein Verhältnis zu ihr. Der Dirigent Otto Klemperer hat gesagt: »Emotionalität ist erwünscht, Sentimentalität nicht.« Bleibt ein Gefühl nur persönlich, ist es schwer vermittelbar, aber ums Vermitteln geht es bei einem Konzert, immerhin ist Publikum anwesend.
Vor einiger Zeit mussten Sie wegen eines Schwächeanfalls während der Aufführung in der Berliner Philharmonie die Bühne verlassen. Haben Sie da doch mal die Kontrolle verloren?
Nein, das hatte nichts mit dem Lied zu tun. Ich leide seit meiner Kindheit an Morbus Crohn, einer Autoimmunerkrankung. Ich hatte wegen einer Kolik vor dem Konzert zu wenig getrunken, mir wurde schlecht, mein Kreislauf brach zusammen, da bin ich eben rausgewackelt und habe mich hingelegt. Ich bekam eine Infusion, eine halbe Stunde später bin ich wieder auf die Bühne und habe weitergesungen.
Wie hat das Publikum reagiert?
Manche haben sich eher frenetisch geäußert, andere fanden es sicher sogar unangenehm, so stark mit der Persönlichkeit eines Sängers konfrontiert zu werden. Mir war die Sache auch peinlich, ich habe mich geschämt, aber auch ein technisches und ethisches Wollen verspürt, den Abend zu Ende zu bringen.
Sind Sie beim Singen trotz dieser Kontrolle in einem Rausch?
Ich habe nichts gegen rauschhafte Zustände, bevorzuge sie aber nach der Aufführung. Je älter ich werde, desto vorsichtiger gehe ich mit meiner Verantwortung als Sänger um. Ich konzentriere mich vor einer Aufführung voll auf die Musik. Ich spreche wenig, gehe in kein Museum, lese kein Buch.
Ist diese Distanz zum künstlerischen Gegenstand, von der Sie sprechen, der Unterschied von Klassik zu Pop?
Nein. Ich glaube nicht, dass die Beatles darauf vertraut haben, Emotionen unkontrolliert aus sich herausströmen zu lassen. Die Voraussetzung für jede ernsthafte Kunst, und dazu zähle ich natürlich deren unglaubliche Musik, sind ein künstlerisches Wollen und Können. Wenn ich Musik von Bach höre, spüre ich in jedem Ton das Desiderat einer ewigen Wahrheit. Ich meine Wahrheit im Sinn des aristotelischen Wahren, Schönen, Guten. Diese Werte verkörpern zwar nur ein Ideal, das sich nicht erreichen lässt, aber man kann sich ihm annähern: mit Wahrhaftigkeit. Vollends begreifen lässt sich Musik nicht. Es geht nie um Eindeutigkeit, immer nur um die Teilhabe an einer Idee. Ich empfinde es sogar als großes Glück, dass jeder bei der gleichen Musik etwas anderes empfindet.
Vor Kurzem hat Daniel Barenboim einen Klavierabend in der Scala in Mailand unterbrochen und eine Zuschauerin, die mit dem Handy fotografierte, öffentlich ausgeschimpft. Bekommen Sie solche Störungen auch mit, oder sind Sie beim Singen in Ihrer eigenen Welt?
Ich bin in einer eigenen Welt, trotzdem merke ich es, wenn die Zuschauer unruhig sind. Ich habe mal einen Mahler-Abend im Teatro La Fenice in Venedig gesungen, als plötzlich ein Handy in der ersten Reihe geklingelt hat, direkt vor mir. Und was macht die Besitzerin? Sie zieht es aus der Tasche, geht ran und fängt zu plaudern an.
Sie müssen durchgedreht sein.
Nur innerlich. Ich habe einfach weitergesungen, obwohl das schon sehr störend war, auch weil die anderen Zuschauer empört reagiert haben. Es ist wie beim Husten: Es irritiert, aber schlimmer sind die, die danach sekundenlang Schhhhhhhhht! machen.
Sie kommen aus Niederbayern, wo ein ziemlich derber Dialekt gesprochen wird. Wie schwierig war es, den für Schubert-Lieder loszuwerden?
Ich spreche im Alltag schon Bairisch, hatte aber beim Singen nie Probleme mit dem Dialekt. Ich komme sogar immer mehr dahinter, dass ich eine leichte Krümmung der gesungenen Sprache in Richtung Umgangssprache ganz gern mag.
Was meinen Sie mit Krümmung?
Nehmen Sie das r in ablautenden Silben wie »vor« oder »wir«. Viele Sänger sprechen diesen letzten Konsonanten relativ stark aus. Ich finde das unnatürlich und benütze lieber einen Diph-thong, wobei man natürlich aufpassen muss, dass es nicht zu bairisch wird, also nicht »voa« oder »wia«.
Kann Musik Sie trösten?
Tut mir leid, aber diesen Zweck sehe ich für mich nicht. Wohl aber kann sie mich aufregen, ja sogar nerven. Wenn ich zum Beispiel frühe Symphonien von Tschaikowsky höre, kriege ich Beklemmungen, und meine Kehle zieht sich zusammen. Es gibt in dieser Musik keine Luftlöcher. Jede Sekunde ist ausgefüllt, alles tönt übervoll. Ich möchte aber niemanden ärgern und kann umgekehrt gut damit leben, dass nicht viele Menschen meine Begeisterung für Mendelssohns Reformationssymphonie teilen.
Finden Sie es banal, wenn andere Menschen sich von Musik trösten lassen?
Nein, aber ich höre Musik eben weder um getröstet noch um unterhalten zu werden. Musik von Bach, Beethoven, Schubert, das ist keine Vergnügung, genauso wenig wie Musik von Velvet Underground oder The Cure. Es geht um Tod, Verlust und Einsamkeit, um das Fehlen des ideal Vollkommenen, um problematische Seelenzustände und Defizite, die ich interessant finde, und das nicht unbedingt wegen ihrer Nähe zu meinem Leben. Musik schafft oft erst die Erschütterung, die einen dazu bringt, sich nach Trost zu sehnen – und den kann sie dann wunderbarerweise auch noch selbst spenden.
Viele Menschen sagen, sie fühlen sich von Musik verstanden.
Mir geht es nicht so. Ich bin eher besorgt, dass sich die Musik von mir nicht verstanden fühlen könnte. Bach bedeutet mir viel, trotzdem möchte ich mich nicht an seinen Werken vergreifen, indem ich ihre Bedeutung für meine Zwecke festlege und an mein Leben binde. Es geht mir nicht darum, Melancholie oder Traurigkeit auszuleben, sondern sie zu betrachten. Nur dann kann ich sie begreifen und einordnen, nur dann entsteht Glück.
Gelingt Ihnen dieses Begreifen eher, wenn Sie singen oder wenn Sie zuhören?
Der Unterschied ist gar nicht so groß. Wenn ich singe, höre ich mir ja selbst zu, nein, eigentlich höre ich dem Werk zu. Und es ist dieses Zuhören, das mich ein Werk immer wieder neu und tiefer kennenlernen lässt. Es ist das Zuhören, das mich überwältigt. Als Kind hatte ich eine wunderbare Kassette mit Musik von Schumann, unter anderem die Kinder- und Waldszenen, das war mein erstes Gänsehauterlebnis. Wenn ich diese Musik heute höre, berührt sie mich stark. Leider weiß ich nicht, ob es die Musik oder die Erinnerung an die eigene Kindheit ist, die mich so bewegt.
Sie scheinen ein melancholischer Mensch zu sein.
Das denken viele, wenn sie mich singen hören, aber es stimmt nicht. Im Gegenteil empfinde ich gerade die Beschäftigung mit düsteren Inhalten als extrem beglückend, weil ich dadurch etwas über das Menschsein begreife.
Sie haben mal gesagt: »Wenn ich nicht zweifle, wird mein Gesang sofort schal.« Woran zweifeln Sie denn?
Nicht an meiner Identität, sondern an meinem Tun. Ich zweifle jeden Abend wieder, und nervös bin ich auch. Ich kenne Sänger, die sagen, sie seien nicht aufgeregt. Das klingt beneidenswert, aber manchmal sitze ich im Publikum und denke, bei mir ginge das so nicht. Es darf nicht mein Ziel als Künstler sein, einen Status quo zu erreichen, der meine Existenz bis zum Berufsende sichert. Ich bin abhängig von meinem Zweifel, er ist mein guter böser Begleiter.
Was haben Sie für ein Verhältnis zur Stille?
Ich mag sie. Zu Hause höre ich nicht viel Musik.
Wie sehr stört Sie Musik in Kaufhäusern und Aufzügen?
Kommt darauf an, um welche Musik es sich handelt. Jazz oder Pop stören mich nicht. Volkstümliche Musik macht mich krank. Bei Klassik aber werde ich wahnsinnig. Ich kann klassische Musik als Hintergrundmusik überhaupt nicht begreifen. Ich kann nicht Schubert hören, nebenbei E-Mails schreiben und denken, ich könne die Schönheit dieser Musik verstehen. Dafür brauchte ich Zeit, Ruhe und Konzentration. Es gibt in unserer Zeit eine Tendenz, ernste Inhalte auf unterhaltsame Weise zu präsentieren. Durch so eine Schleimschicht wird der ernsten Musik etwas Wichtiges genommen, und das tut ihr nicht gut.
Kann Musik gefährlich sein?
Sprache und Taten sind gefährlich, nicht Musik. Nehmen Sie Wagner. Gefährlich finde ich nicht seinen Tristan, sondern was er über das Judentum in der Musik geschrieben hat.
Hat Musik für Sie etwas Erotisches?
Es gibt Musik, die ich mit erotischen Inhalten in Verbindung bringe.
Zum Beispiel?
Gipsy Kings.
Nicht Ihr Ernst.
Doch, diese Musik strahlt ein ungeheures momentanes Wollen aus. Es geht um den Moment, den Augenblick, das donjuaneske Jetzt. Wenn man Sexualität an Vergangenes oder Künftiges knüpft, funktioniert sie nicht so gut.
Kann Musik Sie erlösen?
Nicht erlösen, aber wenn am Ende von Robert Schumanns Faust-Szenen der Chorus Mysticus das Drama beschließt und singt: »Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis / Das Unzulängliche, hier wirds Ereignis / Das Unbeschreibliche, hier ists getan / Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan«, dann fühle ich mich erhoben, wie ich es von einem religiösen Wollen erwarte. Eigentlich erlöst mich Musik von den Sehnsüchten, die sie selbst weckt.
Bismarck hat gesagt: »Immer wenn ich Beethoven höre, werde ich tapfer.« Geht es Ihnen auch so?
Nein, und einen dümmeren Satz muss man ja erst mal suchen. Bismarck war mir, ehrlich gesagt, immer schon zuwider. Ich bin kein Historiker, deswegen darf ich so unqualifizierte Aussagen machen. Dieser ganze Kult um Tapferkeit, Ehre, Stolz und einig Vaterland – ich finde das alles grauenhaft. Und ich möchte durch Musik auch nicht tapfer oder sonst was werden, ich möchte überhaupt nichts werden, nur etwas mehr von der Welt verstehen.
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Christian Gerhaher
Der 45-jährige Bariton zählt zu den weltweit renommiertesten Konzert- und Opernsängern. Legendär sind die Liederabende mit Werken von Schumann, Schubert oder Mahler, an denen Gerhaher seit 25 Jahren vom Pianisten Gerold Huber begleitet wird. Vor dem Durchbruch als Sänger schloss Gerhaher ein Medizinstudium ab. Seine aktuelle Schubert-CD heißt »Nachtviolen«, bald erscheint der Gesprächsband »Halb Worte sinds, halb Melodie«.
Foto: Robert Fischer