Entwarnung?

Nur wenige Monate nach der Ölkatastrophe im Golf von Mexiko sind Floridas Strände wieder freigegeben, alles in Ordnung. Wirklich? Nein. Nichts ist in Ordnung.

Zwischen Urlaubsparadies und Katastrophengebiet liegen vier Zentimeter Sand. Grand Isle, Louisiana, Mitte Oktober, blauer Himmel, 18 Grad. Ein Touristenpärchen läuft barfuß den zuckerweißen Strand entlang. Postkartenstimmung.

Vor einem halben Jahr stand Präsident Barack Obama genau an diesem Strand und sprach von der »schlimmsten Umweltkatastrophe in der Geschichte«. Achtzig Kilometer vor der Küste ist am 20. April die Ölbohrplattform Deepwater Horizon des britischen Energiekonzerns BP im Golf von Mexiko explodiert. Rund 780 Millionen Liter Öl sprudelten ins Meer, die größte Ölpest, die je im Meer geschehen ist. Und heute? Ist davon nichts mehr zu sehen. Zumindest auf den ersten Blick. Die Warnschilder sind verschwunden, die Menschen in weißen Overalls, die BP bezahlte, um das Öl vom Strand zu schaufeln, und mit ihnen die Journalisten und Kameras.

Aber Duane Titus braucht nur vier Zentimeter tief zu graben, um das zu finden, was man nicht mehr sehen soll: einen schwarzen Klumpen Teer, flach und breit wie ein in Sand panierter Hamburger. »Die Touristen bemerken das Öl nicht, weil es mit Sand und Schlamm bedeckt ist«, sagt er und zerbröselt den stinkenden Klumpen. »Aber das Gift verschwindet ja nicht.«

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Titus, ein braun gebrannter Kalifornier, ist seit sechs Monaten am Golf. Immer, wenn irgendwo auf der Welt ein Tanker zerbricht oder eine Plattform explodiert, klingelt sein Handy. Der selbstständige Elektriker engagiert sich seit zwanzig Jahren für die gemeinnützige Organisation Internationale Vogelrettung. »Mit dem Öl wird die Küste hier die nächsten zehn bis zwanzig Jahre zu tun haben«, sagt er.

Auch im Sumpfland, eine halbe Autostunde nördlich von Grand Isle, scheint sich die Natur erstaunlich schnell erholt zu haben. Bis auf einen meterbreiten schwarzen, toten Rand ist das Schilf grün, Pelikane tauchen im senkrechten Zischflug nach Fischen. Aber man muss nur ein paar Meter tief in den Sumpf waten: Duane Titus deutet auf eine schwarze Schicht unter der Wasseroberfläche. Das Öl verhält sich vorbildhaft, als hätte es den PR-Plan von BP gelesen: Es duckt sich unter die Oberfläche. »Es muss nur einen heftigen Sturm geben, der es wieder über die gesamte Insel verteilt«, sagt der Vogelschützer, »aber bis dahin gilt: aus den Augen, aus dem Sinn. Das ist die Maxime, nach der sie hier operieren.« In den letzten sechs Monaten haben Duane Titus und seine Frau Rebecca Hunderte Pelikane, Reiher und Möwen mit Spülmittel gewaschen, gebürstet und an der unversehrten Ostküste wieder ausgesetzt.

Mit den verölten Vögeln verschwinden auch die Nachrichten über die Katastrophe am Golf von Mexiko. 86 Tage lang fieberten Millionen TV-Zuschauer weltweit mit den BP-Technikern mit. 86 Tage lang rätselten Umweltschützer, wie viel Öl aus dem unterirdischen Rohr strömt – 500 000 Liter pro Tag (BP) oder fünf Millionen (die Wissenschaftler)? Immer neue Versäumnisse kamen ans Licht: BP hatte Sicherheitsvorschriften umgangen, um Geld und Zeit zu sparen. Und die Ernennung eines längst verstorbenen Wissenschaftlers zum Experten gehörte noch zu den kurioseren Details des Notfallplans. Am 15. Juli schließlich setzte BP ein Ventil auf die Quelle am Meeresboden, aber erst am 19. September konnte es endgültig für dicht erklärt werden.

»Massive Vertuschung«

Dann passierte etwas, was Gottgläubige nur für ein Wunder halten können: Schon Anfang August, nur zwei Wochen, nachdem BP die Quelle vorläufig verschließt, tritt eine Wissenschaftlerin der Regierung vor die Kameras im Weißen Haus. Im signalroten Blazer verkündet die Chefin der Ozean-Behörde (NOAA), Dr. Jane Lubchenco: »Drei Viertel des Öls sind bereits verdunstet oder wurden abgeschöpft, verbrannt oder zerstoben.« Rechtzeitig zur Touristensaison sind die Strände also wieder offen, die Fischerboote auf dem Meer, die Strandbuden bieten küsteneigene Shrimps an und ganzseitige Zeitungsanzeigen sollen Touristen zurücklocken. Shrimps, Touristen und Öl sind die größten Einnahmequellen von Florida und Louisiana. Floridas Gouverneur Charlie Crist ist sich Mitte Juli sicher, dass seine Strände »nicht toxisch oder schädigend« sind. Es gibt sogar ein Foto vom Sommerurlaub des Präsidenten in Florida. Statt ölverschmierter Pelikane sieht man nun Barack Obama mit seiner Tochter Malia im Meer planschen.

Die »größte Umweltkatastrophe in der Geschichte« hat sich schnell noch vor den Kongresswahlen in einen kleineren Betriebsunfall verwandelt. Laut der Rechnung der Regierung konnte ein Viertel des Öls abgeschöpft oder verbrannt werden. Ein weiteres Viertel verdunstete oder zersetzte sich in kleinere Moleküle. Das dritte Viertel wurde mit Hilfe von Chemikalien als Tropfen im Wasser verteilt. Nur das letzte Viertel – immer noch fünf Exxon Valdez-Ladungen – verbleibt als Schlick auf dem Wasser oder als Teerklumpen am Strand.

Wirklich? Kindra Arnesen lebt mit ihrem Mann, dem Fischer David, ihrem fünfjährigen Sohn Danny und ihrer acht Jahre alten Tochter Elena in Venice, Louisiana, auf der Halbinsel, die im April als Erstes vom Öl heimgesucht wurde. Ihr schmuckes, sandweißes Holzhaus liegt nur einige hundert Meter von der Marsch entfernt. »BP Hauptquartier« steht auf einer ausrangierten Toilette an der Straßenecke. Die 33-jährige Mutter klagt, die Kameras würden immer nur die gleichen Strände ablichten, aber andere Strände verölten ungefilmt, unbemerkt und ungesäubert. Die Gesellschaft für das Kulturerbe von Louisiana, für die Kindra Arnesen arbeitet, schätzt, dass noch rund tausend Kilometer Küste ölverseucht sind. Kindra Arnesen deutet wie zum Beweis auf das stinkende, brackig-braune Wasser, das die Wellen an den Strand spülen. Frühmorgens würden schwere Bagger tonnenweise sauberen Sand auf die ölverseuchten Touristenstrände kippen, sagt sie.

»Massive Vertuschung« sind die Worte, die man von den Anwohnern hier am häufigsten hört. Fotografen dürfen überhaupt nur mit Genehmigung über das Katastrophengebiet fliegen. Die Regierung in Florida erklärt sogar das Buddeln im Sand für illegal. Dann darf man auch keine Sandburgen bauen? Ein Strandaufseher in neongelber Weste droht, er werde die Sheriffs rufen, wenn man die Schaufel in den Sand stoße. Denn wer gräbt, findet Öl.

»Wir haben Angst, dass die einfach ihre Sachen zusammenpacken und uns hier mit dem Zeug sitzen lassen«, fürchtet Billy Nungesser, der bullige, wortgewaltige Präsident der Mississippi-Gemeinde Plaquemines Parish. Er kann es »nicht fassen, dass die offiziellen BP-Trupps sagen, sie finden kein Öl mehr, aber unsere Fischer sehen es jeden Tag. Die da oben wollen das Ganze einfach hinter sich lassen.« Am 10. September verölt eine Flut erneut 26 Kilometer Küste seiner Gemeinde. Nur Tage später werden Zehntausende von toten Fischen, Krabben und sogar ein toter Wal an den Strand gespült. Die zuständige Regierungsbehörde macht eine Kombination von »niedrigem Sauerstoffgehalt und warmem Wasser« für das Massensterben verantwortlich, ein Zusammenhang mit der Ölkatastrophe sei ausgeschlossen, die örtlichen Meeresfrüchte ohne Einschränkung zum Genuss geeignet.

Unter den Fischern kursiert vor allem eine Frage: »Für wie blöd halten die uns eigentlich?« Fischer, die bei BP als Aufräumarbeiter anheuern, müssen einen Vertrag unterschreiben, der zugleich Maulkorb ist. Deshalb sagen zwei von ihnen nur unter Zusicherung von Anonymität, dass sie ein derart massives Fischsterben in Jahrzehnten noch nie gesehen haben. »Warmes Wasser gab es auch schon in früheren Jahren, aber das hier ist einfach nicht normal.«

Auch Wissenschaftler stoßen bei ihren Untersuchungen auf Phänomene, die sie noch nie zuvor gesehen haben. Samantha Joye, Meeresbiologin an der Universität von Georgia, ist seit Beginn der Ölpest auf ihrem Spezial-Boot Oceanus unterwegs. Sie war die Erste, die unter Wasser Ölwolken aus Millionen von Ölpartikeln entdeckte. In tausend Meter Tiefe driften bis zu 35 Kilometer lange Öl- und Methangaswolken, »so groß wie Manhattan«. Die Wolken töten alles Leben, dem sie begegnen, sagt Samantha Joye, »sie könnten im Golf auf Jahrzehnte hinaus tote Zonen schaffen«. Die Rechnung der Regierung, drei Viertel des Öls seien verschwunden, hält sie für »total irreführend«. Nach ihren eigenen Erkenntnissen wurden zehn Prozent des Öls verbrannt oder abgeschöpft, sieben Prozent sind verdunstet, und vier bis zehn Prozent von Bakterien abgebaut. »Das heißt, dass nicht 25, sondern 70 Prozent des Öls noch da sind – weit unter der Wasseroberfläche, wo Bakterien weniger Sauerstoff finden, um es abzubauen. Wenn die Regierung sagt, das Öl sei verstreut oder aufgelöst, denken die Menschen, es sei nicht mehr da, aber das ist falsch.«

Als hätte es nie eine Katastrophe gegeben

Nach dem Ölunfall versprühte BP mit alten DC-3-Fliegern tagelang Corexit über dem Meer. »Corexit ist eine giftige Chemikalie, die Öl atomisiert und es unter Wasser zwingt, um es für das bloße Auge unsichtbar zu machen«, sagt Hugh Kaufman. Er ist Analytiker der staatlichen Umweltbehörde EPA, die dem Versprühen der Chemikalie zugestimmt hat. Kaufman hält das für skandalös: »Corexit ist kein Umweltschutz, sondern ein Geldsparprogramm für BP.« Seine Umweltbehörde erteilte BP auch die Erlaubnis, Millionen Liter des Zerstäubermittels direkt in die Quelle auf dem Meeresgrund zu pumpen, sodass das Öl erst gar nicht an die Oberfläche kommt. Sieben Millionen Liter Chemikalien, mehr als je zuvor nach einer Ölkatastrophe, vermischten sich so mit den 780 Millionen Litern Öl. Und obwohl Corexit in Großbritannien, wo BP seinen Hauptsitz hat, verboten ist, lässt der Ölmulti verbreiten, Corexit sei nicht giftiger als Haushaltsspülmittel.

»Das Ziel ist, das Öl von den Stränden fernzuhalten«, sagt Meeresbiologin Samantha Joye, »aber jetzt haben wir das Zeug tief im Meer, wo man es nicht sehen kann.« Wenn Öl auf der Oberfläche ist, kann man es verbrennen, abschöpfen, ein Teil verdunstet. Aber wenn es auf den Boden sinkt, in die sauerstoffarmen Sedimente, kann es sich auf Jahrzehnte festsetzen und dort Leben ersticken. Was Corexit wirklich anrichtet, weiß kein Mensch. Die Mixtur der Chemikalie soll geheim bleiben. Kaufman sagt, Corexit sei »giftiger als Öl. Die meisten Arbeiter, die nach der Exxon Valdez-Katastrophe damit in Kontakt kamen, leben nicht mehr.« Ein Fischer, der für BP zu Aufräumarbeiten angeheuert wurde, kam mit dem sandfarbenen Corexit-Schaum auf dem Wasser in Kontakt, innerhalb von Sekunden habe sein Rachen angefangen zu brennen, sagt er, dann sei der Schmerz übermächtig geworden: »Ich habe stundenlang gekotzt und wurde todkrank. Ich dachte, ich überlebe das nicht. Bis heute hat meine Haut Ekzeme, die nicht verheilen.« Aber das wichtigste Ziel hat Corexit erreicht: Die »größte Umweltkatastrophe der Geschichte« ist nun nur noch für den sichtbar, der gräbt. Sie ist tiefer gewandert, unter den Sand der Strände, auf den Meeresboden, auf den Grund der Sumpflandschaften.

Und sie hat Folgen, die erst jetzt langsam klar werden. In den Petrischalen des Meeresbiologen John Paul an der Universität von Südflorida verhalten sich Bakterien plötzlich anders als jemals zuvor. John Paul hat etwas entdeckt, was ihm »große Sorgen macht«: Das verseuchte Wasser aus dem Golf verändert die DNA der Kleinst-Organismen. Mikroorganismen wie Phytoplankton und Algen sind die Basis allen Lebens im Ozean und der Grundstock der Nahrungskette. »Die Bakterien sind mutiert, die DNA ist auf Dauer geschädigt«, sagt John Paul. »Und DNA-Schaden führt oft zu Krebs und Tumoren.« Er vererbe sich auf Generationen und Jahrzehnte hinaus.

Stimmt es wirklich, dass BP immer noch Corexit versprüht, wie manche Menschen hier, an der Küste, berichten? Die Pressestelle der Task Force von Regierung und BP gibt darauf keine Antwort.

Kindra Arnesen, die Mutter, die mit ihrem Mann David, dem Fischer, direkt an der Küste lebt, schwankt zwischen Wut und Verzweiflung. »Viele Leute verstehen nicht, wie gefährlich die Situation ist«, sagt sie. Ihre Familie sei vor der Ölkatastrophe völlig gesund gewesen. Kurz nach der Katastrophe hätten ihre Kinder Ekzeme bekommen, ihr Mann David sei »krank geworden wie ein Hund«, er huste und kotze, seit er von BP zu den Aufräumarbeiten angeheuert wurde und Dutzende von verölten Vögeln aus der Marsch geholt habe. Sie schiebt ihre Jeans ein wenig von der Hüfte – unter einem riesigen tätowierten Drachenarm eitern runde, offene Wunden. 27 traubengroße offene Stellen zählt sie an ihren Beinen. Der Arzt habe Krätze diagnostiziert, erzählt sie. »Wir kämpfen seit Monaten gegen eine chemische Überbelastung. Die Ärzte diagnostizieren etwas, was wir nicht haben, und behandeln uns nicht für das, was uns fehlt. Was sind wir – Versuchskaninchen?«

Heute ist der erste Tag, an dem ihr Mann wieder auf See fährt. Die Saison für Königsheringe beginnt, aber, sagt Kindra Arnesen, »eigentlich ist es egal, ob er fischt oder nicht, er kann seinen Fang ohnehin nicht verkaufen. Keiner will irgendetwas anfassen, auf dem ›Golf‹ steht. Ich setze meiner Familie den Fisch nicht vor und würde es auch niemanden raten.«

Billy Nungesser, der Präsident der Mississippi-Gemeinde Plaquemines Parish, will den einheimischen Fisch nun bei großen Football-Turnieren in Dallas und Kanada verteilen – kostenlos. Er hofft: »Dann merken die Leute, wie gut er schmeckt, und kaufen ihn auch wieder.« Hurrikan Katrina war eine verheerende Katastrophe, aber »wir wussten zumindest, womit wir es zu tun hatten, die Vernichtung war unmittelbar«, sagt Kindra Arnesen. Die Ölkatastrophe mache ihr mehr Angst, denn »anders als bei einem Hurrikan ist es ein schleichender Tod. Es ist der Unterschied zwischen einem schnellen, tödlichen Stoß und einem langsamen Krebs.« Die Kameras sind weitergezogen, »wie es uns hier geht«, sagt Kindra Arnesen, »interessiert niemanden mehr«.

3500 Bohrprojekte durchlöchern derzeit die Südküste, Deepwater Horizon war mit 1,5 Kilometer Tiefe bei Weitem nicht das riskanteste. Mitte Oktober hat Präsident Obama das Moratorium für neue Bohrgenehmigungen aufgehoben. Die Ölbranche tat erst so, als könnte es eine solche Katastrophe nie geben. Nun tut sie so, als hätte es sie nie gegeben.

Bilder: ap, dpa(2)