Die Trauminsel

Ab nächstem Jahr gehört die Insel Mayotte im Indischen Ozean zur EU. Schon jetzt versuchen Tausende aus Afrika per Boot dorthin zu entkommen, um als Flüchtlinge anerkannt zu werden - für viele endet die Fahrt mit dem Tod.

Madame Zahara ertrank vor den Augen ihrer 13-jährigen Tochter, als sie versuchte, zurück auf die Insel zu gelangen, auf der sie zwanzig Jahre gelebt und sechs Kinder geboren hatte. Zurück auf die Insel, von der sie deportiert worden war, weil sie keine gültigen Papiere besaß. Eine Welle brach das Boot entzwei, nun liegt Madame Zahara auf dem Grund vor der Küste Mayottes auf dem vermutlich größten Seefriedhof der Welt.

Mayotte? Das ist ein Fleck im Indischen Ozean, irgendwo zwischen Mosambik und Madagaskar, nicht mal halb so groß wie Rügen. Auf den ersten Blick scheint die Insel weit weg, in Wahrheit aber liegt sie vor unserer Haustür: Seit 1841 gehört sie zu Frankreich, im kommenden Jahr wird sie Teil der EU werden. Davon weiß kaum jemand etwas in Europa, doch auf Mayotte und den Nachbarinseln findet seither, fast unbemerkt von der Öffentlichkeit, eines der großen Migrationsdramen unserer Zeit statt. Madame Zahara ist eines der Opfer.

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Die Insel wird von einem französischen Präfekten regiert, dessen Villa über der Hauptstadt Mamoudzou steht. Die Kultur der einheimischen Mahoris blieb jedoch afrikanisch: Die meisten leben unter Wellblechdächern und sprechen Suaheli-Dialekte; die Frauen tragen bunte Tücher, heiraten früh und kriegen im Schnitt fünf Kinder, sodass das Krankenhaus von Mamoudzou seit Jahren den Geburtenrekord in Frankreich stellt.

In den Dörfern verkaufen Bauern Maniok und Hühner am Straßenrand, über Recht und Ordnung bestimmen traditionelle Kadi-Richter. Fünfmal täglich ruft der Muezzin. Ein Relikt aus Kolonialzeiten, das im März 2009 in der Gegenwart angekommen ist: Per Referendum setzten die Inselbewohner durch, dass Mayotte im kommenden Jahr das 101. Département Frankreichs wird; dies schließt das Recht auf Sozialleistungen und EU-Subventionen ein. Und plötzlich sorgt sich Paris so sehr um sein »Konfetti« im Indischen Ozean, dass Ende Januar Staatspräsident Nicolas Sarkozy zu einem Kurzbesuch einflog. Seine größte Sorge galt der Tatsache, dass von den 185 000 Menschen, die auf Mayotte leben, rund 30 Prozent keine einheimischen Mahoris sind, sondern Komoren von den Nachbarinseln.

Genau wie Madame Zahara. Wie ihr Mann Said. Wie ihre 13-jährige Tochter Idrissa und ihre fünf anderen Kinder. Wie ihre Schwestern, Kollegen, Nachbarn. Wie insgesamt mindestens 60 000 Bewohner Mayottes. Auf den Schwestern- inseln, die nicht zu Frankreich gehören, herrscht nach 25 Putschen in 35 Jahren bitterste Armut. Darum kamen in den vergangenen Jahrzehnten Zehntausende nach Mayotte; bis 1995 war der Zuzug legal. Die Migranten waren und sind auf der Suche nach Arbeit, medizinischer Versorgung, Bildung, Sicherheit. Sie gründen Familien, schicken ihre Kinder zur Schule, arbeiten schwarz auf Planta-gen oder Baustellen. Eines fehlt ihnen – französische Papiere. Die jedoch entscheiden seit Kurzem über alles auf Mayotte. Im schlimmsten Fall, wie bei Madame Zahara, auch über Leben und Tod.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Wie Madame Zahara von der Grenzpolizei festgommen und abgeschoben wird.

2006 befahl Nicolas Sarkozy, damals Innenminister und selbst ernannter Vorkämpfer gegen illegale Einwanderung, die Zahl der Abschiebungen radikal zu erhöhen: 16 000 sogenannte Papierlose deportierte die Grenzpolizei 2006, mehr als doppelt so viele wie in den Jahren zuvor. Im vergangenen Jahr steigerte der neue Präfekt Hubert Dérache die Zahl auf knapp 20 000, darunter 3000 Kinder und Jugendliche. Die Rechnung der Politiker: Jeder zehnte Inselbewohner soll verschwinden. Madame Zahara, Assna mit Vornamen, auf der Komoreninsel Anjouan geboren, hatte schon als Kind mit ihren Eltern ein paar Jahre auf Mayotte gelebt. 1990, mit 20, kehrte sie zurück. Sie heiratete ihren Landsmann Said, der auf Mayotte groß geworden war, und zog mit ihm nach Combani, einem Dorf im Landesinneren.

Said arbeitete als Chauffeur, später erntete er Bananen auf den Plantagen der Einheimischen. Seine Frau pflückte für einen Pariser Parfümeur die Blüten des Ylang-Ylang-Strauches. Knochenarbeit für Hungerlöhne, Papiere spielten keine Rolle. Das Paar bekam sechs Kinder, im Haus nebenan wohnte Madame Zaharas Schwester Hadidja, die einen Mahori geheiratet hatte. Wäre die Insel ein normaler Teil Frankreichs, hätten die Kinder mit der Geburt automatisch die französische Staatsbürgerschaft erhalten. Doch so einfach ist das auf Mayotte nicht: Wer dort Franzose werden will, muss einen komplizierten Bürokratiedschungel durchlaufen und nachweisen, schon etliche Jahre auf der Insel verbracht zu haben. Und selbst dann finden Beamte häufig Gründe, warum die Staatsbürgerschaft nicht erteilt werden kann.

Seit die Jagd auf die Papierlosen eröffnet wurde, hat die Grenzpolizei ihr Personal auf 115 Beamte verdreifacht; angelockt von satten Gehaltszuschüssen kamen junge Gendarmen auf die Insel, die nun »Sarkos Drecksarbeit« erledigen, wie sie selbst sagen. Jede Nacht fangen Fregatten auf See kleine Flüchtlingsboote ab, sogenannte Kwassa-Kwassas, jeden Tag patrouillieren Bodentrupps über die Insel. »Wir versuchen, unter den Illegalen permanent ein Klima der Bedrohung zu schüren«, erklärt ein Leutnant der Gendarmerie.

»Moro! Moro!« (»Gefahr!«) rufen die Papierlosen, sobald ein Wagen der Grenzpolizei in den Wellblechsiedlungen auftaucht. Frauen lassen ihre aufgehäuften Mangos stehen, Männer werfen ihre Maniok-Bündel ab, Mütter drücken Bekannten, die legal auf der Insel sind, ihre Kinder in den Arm und rennen davon. Polizisten umzingeln Straßenzüge, durchsuchen Sammeltaxis, Wellblechhütten, Häuser. Und da es so viele Papierlose gibt, werden sie schnell fündig.Am 18. November 2009 erwischte es Madame Zahara.

Ein Polizist nahm sie zu Hause fest und brachte sie ins Abschiebelager Pamandzi, zwei Räume mit zerschlissenen Bodenmatten und stinkenden Toiletten; mehr als hundert Menschen werden hier oft zusammengepfercht. Madame Zaharas französischer Schwager eilte mit einer Tasche voller Papiere nach Mamoudzou zur Präfektur: darin sein Pass, die Geburtsurkunden von Madame Zaharas Kindern, ihr blaues Gesundheitsheftchen, das belegt, wie lange sie schon auf Mayotte lebt. Doch es nützte nichts. Keine 24 Stunden nach ihrer Festnahme wurde Madame Zahara auf die Nachbarinsel Anjouan abgeschoben.

In Paris oder Marseille hätte Madame Zahara beste Chancen gehabt, zumindest ein Bleiberecht einzuklagen. In Mayotte Einspruch zu erheben ist nahezu aussichtslos. Im Gegensatz zum Mutterland urteilen hier keine Richter über die Verfahren. Stattdessen gilt: Wer sein Aufenthaltsrecht nicht schriftlich nachweisen kann, wird nach spätestens 48 Stunden per Schiff oder Flugzeug auf die Komoren verfrachtet. Für Flore Adrien von der Hilfsorganisation CIMADE ist klar: »Die Behörden auf Mayotte verstoßen täglich gegen französische Bürgerrechte und die Europäischen Menschenrechtskonventionen.«

Madame Zahara blieb nur drei Tage auf Anjouan. Sie holte ihre 13-jährige Tochter Idrissa ab, die eine Zeit bei der Großmutter gelebt hatte, und kaufte für rund 600 Euro zwei Plätze in einem Kwassa-Kwassa. Am 23. November stach das Schleuserboot bei Einbruch der Dunkelheit in See, mit 32 Personen hoffnungslos überbelegt.

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Siebzig Kilometer sind es von Anjouan bis Mayotte, doch kam das Boot nie an. Nach zwei Tagen rettete ein Fischer elf Schiffbrüchige aus dem Meer, darunter die 13-jährige Idrissa, vollkommen erschöpft, von Salz und Sonne verbrannt. 36 Stunden hatte sie sich an leere Tankkanister geklammert und diejenigen sterben sehen, deren Kraft nicht ausreichte – auch ihre Mutter. 21 Menschen ertranken, zwei Schwangere, vier Kinder, ein Säugling darunter.

Hunderte ähnliche Schicksale sind den Hilfsorganisationen bekannt, nur selten gelingt es, zu Unrecht festgenommene Abschiebehäftlinge aus dem Lager freizubekommen. Zusammen mit Idrissa überlebte ein anderer Komore die Überfahrt, der nie hätte ausgewiesen werden dürfen, weil er auf Mayotte seine kranke Tochter pflegt. Doch die Verlängerung seines Visums hatte sich wieder einmal verzögert, und so fehlte ihm bei einer Kontrolle das nötige Papier.

Besonders schlimm findet Flore Adrien, die Frau von der Hilfsorganisation, wie mit Minderjährigen umgegangen wird: 2008 habe die Grenzpolizei alle zur Abschiebung inhaftierten Kinder kurzerhand für volljährig erklärt – und dabei in den Papieren für alle dasselbe Geburtsdatum eingetragen, den 1. Januar 1980. Im März 2009 wurden Beamte der Inselverwaltung vom Gericht in Mamoudzou schuldig gesprochen, weil sie das Geburtsdatum eines 14-jähriger Schülers gefälscht hatten, um ihn ohne Erziehungs- berechtigten abschieben zu können; sein Vater und der Schuldirektor hatten vergeblich Arzt- und Schulzeugnisse vorgezeigt, die das wahre Alter des Jungen belegten. »Wer kein Aufenthaltsrecht hat, soll es beantragen, und wenn es nicht bewilligt wird, hat er die Insel zu verlassen«, sagt hingegen Hubert Dérache, der Präfekt.

10 000 Kinder illegaler Einwanderer säßen in den Schulen und überforderten die Lehrer und Mitschüler, 32 Millionen Euro bezahle die Insel jedes Jahr für die medizinische Versorgung der unversicherten Migranten. Dérache erzählt von seinen Einsatzkräften, die wöchentlich Dutzende Menschen aus dem Meer retten, weil Schleuser sie über Bord werfen, um selbst zu entkommen; von einem Papierlosen, der in einem Jahr 13 Mal abgeschoben wurde und stets wieder illegal zurückkam; und von den einheimischen Mahoris, die »den Kuchen nicht länger teilen wollen« – aber gleichzeitig die Papierlosen als billige Arbeitskräfte nutzen. Dérache sagt: »Wenn wir nichts tun, explodiert Mayotte. Und unsere Subventionen können wir gleich in die Lagune werfen!«

Was den Präfekten besonders empört: dass viele Schwangere die gefährliche Überfahrt wagen, um ihrem Kind mit einer Geburt auf Mayotte eine bessere Zukunft zu bieten. Tatsächlich wurden in der Klinik von Mamoudzou im Jahr 2008 zwei Drittel der 4227 Neugeborenen von Frauen ohne Krankenversicherung zur Welt gebracht, die meisten davon Komorinnen. Wie am Fließband leisten drei Hebammen und ein Arzt dort Geburtshilfe, an besonders geburtenstarken Tagen liegen die Wöchnerinnen auf Isomatten, weil es an Betten mangelt.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Wie Madame Zaharas Familie das furchtbare Ereignis verkraftet.

Auch Dérache, der Präfekt, müsste indes wissen, der Vorwurf, dies seien vor allem schwangere Komorinnen, die gerade erst in Mayotte gelandet sind, vom Gesundheitsamt widerlegt wurde – die papierlosen Frauen in der Geburtsklinik leben in der Regel schon lange auf der Insel oder sind nach einer Abschiebung dorthin zurückgekehrt. Als die Familie von Madame Zahara vom Unglück erfährt, eilt aus Angst vor der Grenzpolizei nicht Said, ihr Mann, nach Mamoudzou, sondern ihre Schwester Hadidja.

Vor dem Krankenhaus trifft sie auf andere Angehörige, die verzweifelt herauszufinden versuchen, ob ihre Mütter, Brüder, Cousinen unter den Überlebenden sind. Schließlich findet sie ihre Nichte Idrissa. Die Augen der 13-Jährigen sind starr, von Salzwasser und Tränen gerötet. Ärzte haben ihr einen Tropf angelegt und versorgen die verbrannte Haut. Idrissa steht unter Schock und sagt tagelang kein Wort.

Seit dem Tod von Madame Zahara kümmert sich Flore Adrien von CIMADE um die Familie. Sie hat für Idrissa psychologische Hilfe organisiert; Said, der Witwer, bekommt Medikamente gegen seine Panikattacken. Idrissa hat alle ihre Unterlagen im Meer verloren, mit Hilfe von Flore Adrien versucht Said dennoch, die Papiere der Familie in Ordnung zu bringen. Der lange beantragte französische Pass, auf den seine älteste Tochter seit ihrem 18. Geburtstag im April 2009 Anspruch hat, ist immer noch nicht fertig – bei jedem Spaziergang riskiert sie festgenommen und deportiert zu werden, so wie ihre Mutter.

Said selbst kann keine Aufenthaltsgenehmigung beantragen, weil er weder eine Geburtsurkunde noch einen komorischen Pass besitzt. Nie hat er sich oder seine Frau Assna als »illegal« betrachtet; sie lebte seit zwanzig Jahren auf Mayotte, er sogar seit vierzig. Nun kann er sie nicht einmal begraben. Ihre Leiche wurde nie gefunden, offiziell gilt sie als vermisst – wie alle der schätzungsweise 5000 Menschen, die in den vergangenen Jahren bei der Überfahrt nach Mayotte ertrunken sind.

Mit seinem Besuch Ende Januar machte Nicolas Sarkozy deutlich, wie wichtig ihm Mayotte ist. Auf dem Marktplatz von Mamoudzou hielt er eine Rede und sagte zum Abschied: »Machen wir uns nichts vor. Der Kampf gegen die illegale Einwanderung ist noch lange nicht gewonnen.« Die einheimischen Mahoris jubelten, doch auch die Papierlosen hatten Grund zur Freude: Da die Polizei zum Schutz des Präsidenten abkommandiert war, verlebten sie ausnahmsweise einen eher ruhigen Tag.

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In der Nacht, in der Madame Zahara starb, fuhr Katja Trippel als Journalistin auf einem Patrouillenboot der Grenzpolizei von Mayotte mit. Wegen eines Motorschadens kehrten die Polizisten jedoch relativ bald in den Hafen der Inselhauptstadt Mamoudzou zurück. Sonst hätten sie vermutlich das gekenterte Flüchtlingsboot gefunden – und Madame Zahara wäre noch am Leben.

Die Autorin bedankt sich bei der Organisation Médecins du Monde ("Ärzte der Welt").

Fotos: Katja Trippel, Reuters