Für Horst Köhler war der 23. Mai 2009 ein Freudentag. Zum zweiten Mal war er zum Bundespräsidenten gewählt worden. Am Ende seiner Ansprache hob er den Blick hinauf zur Besuchertribüne, wo seine Frau saß, und sagte: »Dir, Eva, möchte ich Danke sagen. Jede Stunde mit dir ist ein Geschenk.« In allen Berichten über die Rede wird dieser Satz zitiert. Tatsache aber ist: Köhler hat den Satz nie gesagt. »Jede Stunde ist ein Geschenk mit dir.« Diesen Satz hat er gesagt, grammatikalisch höchst fragwürdig. An jenem 23. Mai 2009 saß Dr. Bärbel Heising mit Block und Bleistift im Bundestag und stenografierte Köhlers Rede mit. Schon beim Mitschreiben, sagt sie heute, »wusste ich, dass ich diesen Satz ändern würde«.
Der Schreibtisch von Frau Heising in ihrem Reichstagsbüro wirkt so poliert, als wischte jemand alle paar Stunden Staub. Es ist kurz nach zwei Uhr, in einer halben Stunde werden Stenografen beginnen, bei ihr Texte abzuliefern, die sie kontrollieren wird. Zwölf Jahre lang hat sie als Stenografin gearbeitet, dann zwölf Jahre als Revisorin. Im letzten Jahr ist sie zur Endredakteurin aufgestiegen, der verantwortungsvollsten Aufgabe beim Stenografischen Dienst. Auf Heisings Visitenkarte steht »Stenographischer Dienst« mit »ph«. Auf den Karten ihrer Kollegen ist das Wort mit »f« geschrieben. Beruhigend, denkt man sich, dass auch bei Stenografen Raum ist für Uneinheitlichkeit.
Die Aufgabe von Dr. Heising ist es, an diesem 159. Sitzungstag des Parlaments einen letzten strengen Blick auf die Redeprotokolle zu werfen, bevor sie gedruckt und archiviert werden. Die promovierte Germanistin sagt: »Wir arbeiten mit Netz und doppeltem Boden.« In gewisser Weise ist Heising der doppelte Boden. (Vermutlich würde sie diesen Satz nicht durchgehen lassen.) Menschen wie Heising sorgen dafür, dass kein Wort verloren geht und dass die Sätze einen Feinschliff bekommen, denn viele Abgeordnete, Minister, Kanzler und Präsidenten reden, als gäbe es keine Logik im Satzbau.
Heising und ihre Kollegen schreiben mit, wenn Angela Merkel redet, und wissen dann schon, dass sie an ihrer Rede mehr feilen müssen als am Beitrag des parlamentarischen Geschäftsführers der FDP-Fraktion Jörg van Essen. Ein Stenograf, der um Anonymität bittet, sagt: »Die Sprache der Bundeskanzlerin, ja, also, die Bezüge der Wörter der Bundeskanzlerin liegen manchmal neben der Norm.« In den Protokollen der Stenografen werden die unglücklichen Formulierungen der Kanzlerin auf Norm gebracht. Derselbe Stenograf freut sich, wenn van Essen vors Mikrofon tritt: »Er beherrscht die freie Rede und trägt schön gegliedert vor.«
Stenografen verlieren selbst bei Schnellrednern nie den Anschluss: Ihre Kurzschrift, für deren Beherrschung man mindestens zwei Jahre braucht, ermöglicht ihnen das. Ein »B« etwa sieht aus wie der Griff eines Regenschirms.
Die Protokolle, die Heising und ihre meist studierten Kollegen anfertigen, werden im Keller des Bundestages archiviert. Wie lange? Heising lacht und sagt: »Bis der Keller voll ist.« Im vergangenen Jahr fertigten die Stenografen 8805 DIN-A-4-Seiten Protokoll an, aneinandergelegt sind das fast zwei Kilometer Papier. Sogar die Blöcke werden aufgehoben – falls jemand behauptet, er habe dieses und jenes nie gesagt.
An Tagen wie diesen, wenn Heising Texte lesen muss, die sich mit Globalisierung, Finanzkrisen und genmanipuliertem Gemüse beschäftigen, nimmt sie keine Zeitung mehr zur Hand und auch kein Buch. Sie geht dann nach der Arbeit spazieren oder einfach schlafen.
Sie bildet inzwischen auch Stenografen-Anwärter aus. Viele junge Menschen interessierten sich für den Beruf. Ach ja? Im Zeitalter von Internet und E-Books? Heising versteht die Überraschung nicht: »Im Bundestag geht es um das wirkliche Leben. Hier werden Entscheidungen getroffen, die jeden Bürger betreffen.« Dann klopft es an der Tür. Hereingereicht wird ein erster Protokoll-Baustein vom Vormittag.
Abgeordnetenreden, die unter anderem von Waltraud Plickert und Detlef Peitz stenografiert wurden. Plickert ist Stenografin, Peitz Revisor. An Sitzungstagen sind immer 16 Stenografen im Einsatz und acht Revisoren. Revisoren sind eine Art Kontrollinstanz. Sie schreiben auch mit – aber nur, um sicherzustellen, dass die Stenografen richtig mitgeschrieben haben.
Um 10.30 Uhr Verabredung mit den Revisoren im Büro von Peitz. An der Wand hängt eine große Uhr, sie geht zwei Minuten vor, absichtlich. Stenografen schreiben jeweils immer fünf Minuten mit, Revisoren 25 Minuten. Ihre Aufgabe ist es, die Stenos von fünf Stenografen zu einem Ganzen zusammenzufügen. Den Text erhalten dann Endredakteure wie Bärbel Heising. Es ist ein Räderwerk. Jeder hat die Uhr im Blick. Und jeder hat Ersatzkugelschreiber dabei. Frau Plickert an diesem Freitag zwei, Herr Peitz drei.
Heute ist Plickert für vier Fünf-Minuten-Intervalle eingesetzt. Viermal wird sie fünf Minuten lang auf einem Hocker sitzen, ohne Lehne und Armstützen. Stenografen sollen sich ja nicht ausruhen. Um 11.30 bis 11.35 Uhr ist sie dran, um 12.55 bis 13.00 Uhr, 14.20 bis 14.25 Uhr, 15.45 bis 15.50 Uhr. Klingt nach nicht viel. Tatsächlich ist sie mit jedem Fünf-Minuten-Intervall ungefähr 80 Minuten beschäftigt, bis sie ihren Text beim Revisor abliefert. Die Texte müssen verglichen und kopiert und auch den Rednern vorgelegt werden. Es kann vorkommen, dass sich ein Redner beschwert und sagt, das habe er so nicht gesagt. Dann wird um Wörter gefeilscht. Meistens aber sind die Redner froh, dass sie korrigiert werden.
»Unsere Gefühle dürfen wir nicht zeigen, wenn uns etwas aufregt«
Fotos: Maurice Weiss