»Die Diffamierung der Menschen mit einer andere Meinung zeigt ganz klar faschistische Züge eures Lagers. Somit bist du auch einer. Und das ist widerlich.« Müde blicke ich auf diese Zeilen in meiner Instagram-Kommentarspalte. Noch einer. Schon wieder. Okay. Seit Wochen diskutiere ich online mit Impfgegnern und Verschwörungstheoretikern. Wie ich meine: aus gutem Grund. Meinen Erfolg würde ich allerdings als bisher überschaubar beschreiben.
Viel ist geschrieben worden über das postfaktische Zeitalter, über Verschwörungsdenken, über soziale Medien und die damit verbundenen Wahrheitsprobleme – auch von mir. Dann kam Corona. Als es schon schien, als hätten wir es schwer, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, kam ein verflixtes Virus hinzu.
Klar, mittlerweile sind über 50 Millionen Deutsche doppelt geimpft. Allerdings sind das nach wie vor zu wenige. Anstatt, dass sich fix siebzig, achtzig, neunzig Prozent der Deutschen Moderna, Biontech, Johnson & Johnson dankbar in den Arm piksen lassen, bleibt eine Bevölkerungsgruppe skeptisch, abwehrend, die Ärmel trotzig heruntergekrempelt. Höchste Zeit, mit denen mal ein Wörtchen zu reden, fand ich, und fing an. Natürlich online, mit Abstand, wir haben schließlich immer noch Pandemie.
Vorab: Was ich tat, war kein reines Experiment. Kein Spaß, den ich mir erlaube. Ich wollte wirklich herausfinden, wie die Leute ticken, die uns die Pandemie durch ihre Bockigkeit verlängern. Wer diese Ungeimpften sind, und wie man dazu kommt, bewusst und absichtlich zu der Gruppe gehören zu wollen, die über neunzig Prozent der Corona-Intensivpatienten ausmacht. Das RKI untersucht das Infektionsgeschehen bei Geimpften und Ungeimpften jetzt sogar separat. Die Unterschiede? Dramatisch. Die Impfung schützt vor schweren Verläufen. Wer geimpft ist, gibt das Virus seltener weiter. Der jetzige Tenor der Wissenschaft: Geimpfte unter sich haben relativ wenig zu befürchten. Einige Experten sprechen schon von einer »Pandemie der Ungeimpften«.
Ich gebe also mein Bestes, zum Impfluencer zu werden. Dazu nutze ich Twitter und Instagram, die Plattformen, auf denen ich bereits aktiv bin. Vorab nehme ich mir eine Grundregel vor: »Poste nichts, hinter dem du nicht auch wirklich stehst.« Ich will die Corona-Gegenmittel also nicht schöner, besser, sinnvoller reden, als sie wirklich sind. Ich will ebenso wenig die Corona-Risiken übertreiben. Ich will, wie man so schön sagt, nach bestem Wissen und Gewissen mit Leuten in einen Dialog treten. Was mich dazu befähigt? Ich habe eine Promotion in Philosophie. Suboptimale Voraussetzung für ein medizinisches Aufklärungsgespräch, optimale Voraussetzung allerdings für ein, äh, Gespräch. Also los!
Ich veröffentliche ein paar Tweets. Verteidige die Wissenschaft auf Instagram. Das ein oder andere spöttische Meme poste ich auch. Und dann kommen sie. Die Moderna-Missachter und die Biontech-Bepöbler. Ich versehe meine Posts bewusst mit Impfgegner-Hashtags, um mehr von ihnen anzuziehen. Es funktioniert. Ihr Querdenkerlein, kommet! O kommet doch all!
Dann die erste Ernüchterung. Manch ein Impfgegner erscheint mir, sagen wir mal, nur bedingt gesprächsbereit. Als ich die 2g-Regel in Hamburg als sinnvolle, gemeinwohlorientierte Regel beschreibe (wie gesagt haben Geimpfte und Genese eher wenig voneinander zu befürchten), heißt es:
Andere werden direkter:
Eine dritte Gruppe geht gleich analogietechnisch in die Vollen:
Und so geht das zwei, drei Wochen lang weiter. Auf Twitter wie auf Instagram. Ich verteidige Impfschutz, kritisiere Impfgegnertum, argumentiere für ein solidarisches, möglichst krankheitsfreies Miteinander – und dann kommen sie. Da ich aus der Reichweite von Forken und Fackeln bin, toben sie sich in den Kommentaren aus. An der Wirksamkeit von Impfungen wird gezweifelt; die Wirksamkeit der Sprache scheint außer Frage, kein Vergleich ist zu blöd. Mal wäre »Goebbels stolz auf dich, das passt genau in sein Schema«, dann wünscht man mich nach Nordkorea, kaum später bin ich ein »moderner Blockwart«, irgendein Jonas hält das Ganze für »Billige Impf-Propaganda« (ich entgegne, meine Tweets, in denen ich ja wirklich argumentiere, seien, wenn schon, dann hochwertige Impfpropaganda) – und so weiter und so fort. Zu den netteren Sprüchen gehört »studierter Taxifahrer«, weil ich ja, lol, Philosoph und Schriftsteller bin.
Das meiste ist allerdings härter. Es hagelt und hagelt NS-Vergleiche. Nicht nur bei mir, sondern überall. So viele NS-Vergleiche, dass Karolin Schwarz zu Recht fragt, ob irgendein NS-Vergleich noch nicht gemacht wurde. Die Coronakrise ist, ganz offenbar, seit Beginn an auch eine Vergleichskrise. Dennoch ist bekanntlich nicht alles, was hinkt, ein Vergleich, und nicht jeder, der gegen etwas ist, Sophie Scholl. Ich habe mittlerweile, nicht zuletzt berufsbedingt, ein dickes Fell. Aber aus Spaß melde ich einen der Faschistensprüche. Wie erwartet: der Twitter-Support, berühmt für das Stehenlassen von Beleidigungen und Drohungen (und gleichzeitiger Überempfindlichkeit bei nicht ernst gemeinten Scherzen), sieht kein Problem.
Dann und wann kommt ein My eines Gesprächs auf. Wenn man mich nicht sofort »Gesundheitsfaschist« nennt, mir den Knast wünscht oder mich für meine impffreundliche Haltung zum »Sklaven des Teufels« deklariert (auch das ist allen Ernstes auf Instagram passiert), dann diskutiere ich. Ich diskutiere mit Fremden über Long Covid, ich diskutiere über Langzeitfolgen (eher der Krankheit als der Impfung, da gibt’s ja keine), ich diskutiere über die Sinnhaftigkeit der Impfung für junge Menschen. Ich erzähle von meinem Freund, der – Vorsicht, anekdotische Evidenz! – Corona frühzeitig unwissend aus Ischgl importierte und nun seit anderthalb Jahren nicht mehr riechen kann wie zuvor.
Sobald es um Statistik und Wahrscheinlichkeit geht, kommt schnell jemand, mit dem Spruch daher, er glaube, haha, keine Statistik, die er, hihi, nicht selber gefälscht habe, zwinker, zwinker. Mit jemand anderem streite ich mich über die Innovationskraft der Wissenschaft. Er sagt: Wissenschaft sei unglaubwürdiger Quatsch, »wissenschaftliche Erkenntnisse werden ständig überholt«. Wir reden also darüber, wie es kommt, dass Wissenschaftler auch mal ihre Meinung ändern. Ich führe Wissenschaftsirrtümer an (geozentrisches Weltbild, Alchemie usw.), erkläre Paradigmenwechsel, verteidige den Aufbruch zu neuen Ufern der Erkenntnis. Dass dazulernen ja eine gute Sache sei. Ich argumentiere, dass Erkenntnisgewinn für die Wissenschaft spricht. Das Ergebnis? Der mir namentlich unbekannte Produzent von Untergrund-Rapvideos hält mich für schwer von Begriff:
Die individuellen Motive meiner Hassredner mögen variieren. Nicht zu leugnen ist die gesellschaftliche Verbreitung von Verschwörungsdenken und Impfgegnertum während der Corona-Pandemie. Laut dem Forschungsprojekt Covid-19-Snapshot-Monitoring denkt etwa ein Viertel der etwa eintausend Befragten, Corona sei ein Schwindel, bei dem verborgene Mächte ihre Finger im Spiel hätten; ein weiteres Viertel hält Corona für menschengemacht. Zehn Prozent der Befragten glauben beides. Wer so denkt, lässt sich wohl eher nicht impfen. Auch wenn die Querdenker-Demos momentan schrumpfen, sollten wir uns keine Illusionen machen: Verschwörungstheorien sind kein Phänomen vom Rande der Gesellschaft. Sie haben Breitenwirkung. Bereits 2019, also vor Corona, erklärte die WHO Impfgegner zur globalen Bedrohung, die jährlich Millionen Menschen das Leben kostet. Was ich hier in Form von Beschimpfungen und Anfeindungen erlebe, ist also nur ein winziger Teil eines riesigen globalen Problems. Vor diesem Hintergrund muss man auch die wütenden Tweets, Nachrichten und Kommentare einordnen. Die Betroffenen dieses Verschwörungsdenkens sind leidenschaftlich, wütend und maßlos, weil sie sich betrogen und zugleich existenziell bedroht fühlen. Das rechtfertigt ihre Brutalität nicht, erklärt sie aber stückweit.
In Woche drei oder vier meines Experiments passiert das Unglaubliche. Es meldet sich jemand per Instagram-Privatnachricht. Eine junge Frau. Sie folge mir schon länger und wolle mir schreiben. Sie erzählt, dass sie keine klassische Impfgegnerin sei. Sie finde die Impfung sogar eher gut, gehe selber nicht viel unter Leute, und wenn, dann getestet. Sie schildert, wie der Positionswechsel der Wissenschaft sie verunsichere, zudem habe ihre Mutter eine Corona-Infektion mühelos überstanden. Vor allem aber habe sie als junge Frau, die später eine Familie gründen will, Angst wegen möglicher Langzeitfolgen (der Impfung, nicht der Krankheit) und sei deswegen noch zögerlich und reserviert. Sie sei eben keine von den Impfgegner-Idioten, von den Bill-Gates-Verschwörungstheoretikern.
Sie schreibt: »Ich kann verstehen, wenn sich Leute impfen lassen, gar keine Frage und finde es auch gut, aber es sollte eindeutig differenziert werden zwischen ›ich bin ein Hohlkopf und bin einfach nur gegen die Regierung‹ oder ›ich hab Angst und kein Plan, was ich glauben soll und deshalb möchte ich lieber nicht‹.«
Und es passiert wirklich! Wir kommen ins Gespräch. Per Privatnachricht, jenseits der Öffentlichkeit. Es wird ein höflicher, freundlicher, offener Dialog. Ich schicke ihr Links zu Studien, die darlegen, inwiefern ihre Angst vor impfbedingter Sterilität unbegründet ist (und erzähle mal wieder die Geschichte von meinem Freund, der nicht mehr gut riechen und schmecken kann). Sie erzählt mir, wie oft sie angefeindet wird, einfach weil sie etwas ratlos zwischen den Stühlen steht, unentschlossen und keinem der Lager so richtig zugewandt. Nach einigen längeren ausführlichen Nachrichten endet die Privatkorrespondenz. Und sie lässt uns beide ausnahmsweise glücklich zurück. Sie schreibt »echt schön auch Mal eine informative Antwort zu bekommen. und wie gesagt, danke auf jeden Fall für die Links und die ganzen Infos, ich werde mich reinlesen 😊«. Ich antworte ihr: »Schön, mal jemanden zu sprechen, der mich nicht für dumm/naiv/böswillig/Propagandaminister hält.«
Was ziehe ich aus meinen Wochen als Impfluencer? Werde ich das weitermachen? Vielleicht. Mit derselben Intensität? Wohl eher nicht. Meine Intuition von vor ein paar Jahren, nicht mit Verschwörungstheoretikern zu reden, da es müßig, blöd und aussichtlos sei – die war nicht ganz falsch. Ich kann sagen, ich habe es probiert. Oft probiert. Und bin oft gescheitert. Auch an mir, an meiner Ungeduld. An meinem Unwillen, geduldig zu bleiben, wenn mein Gegenüber ahnungslos und gleichzeitig selbstsicher ist.
Nach wie vor bin ich für Gegenrede, für das Gespräch, für das bessere Argument. Aber in den Sozialen Medien? Weitestgehend anonym? Mitten in der Krise, sodass die Gemüter erhitzt sind, weil alle betroffen sind und jeder den anderen für einen Idioten hält? Nein, danke. In Zukunft eher ohne mich. Dann lieber persönlich. Oder per Privatnachricht. Gegenrede muss sich lohnen. Gegenrede muss gut platziert sein und der Kontext muss stimmen. Und manchmal, ja manchmal, da funktioniert der Dialog dann doch. Unter Fremden. Online. Aus heiterem Himmel. Einfach so.