Nach drei schrecklichen Stunden treffe ich schließlich doch ein paar Leute, die Auschwitz gewachsen sind: Ich stehe auf dem kleinen Parkplatz vor dem ehemaligen Vernichtungslager, als eine Reisegruppe aus Israel ankommt. Forsch und auffallend gut gelaunt ziehen sie durchs Tor, schwenken dabei israelische Fahnen. In diesem Moment frage ich mich, ob ich an Auschwitz von Anfang an falsch herangegangen bin.
Ich war mit einem Bild im Kopf gekommen, das sich über Jahrzehnte geformt hatte. Das Herz der Finsternis, Schauplatz des größten Verbrechens der Weltgeschichte. Ich wusste, dass die Nazis hier 1,1 Millionen Menschen vergast, erschossen, erschlagen, zu Tode geschunden hatten. Ich wusste vom Tor mit dem Schriftzug »Arbeit macht frei«, den Gaskammern, den Krematorien, der Rampe. Je mehr ich las, desto größer wurde mein Wunsch, alles mit eigenen Augen zu sehen und dabei auf meine eigene, kleine Weise der Opfer zu gedenken.
Nun bin ich hier und mit diesem Ziel alles andere als allein. An den Kassen geht es zu wie beim Sommerschlussverkauf, und als mich im engen Keller von Block 11, wo man in die Folterzellen der SS schauen kann, ein Spanier in Regenjacke anrempelt, reagiere ich unwirsch. Gleich darauf schäme ich mich.
Letztlich sind es aber nicht die vielen anderen Besucher, die das Gedenken zur Herausforderung machen. Es sind die vielen Opfer. 1,1 Millionen Tote – wie soll man diese Zahl begreifen? In der Ausstellung zur Geschichte des Lagers suche ich nach den Namen von Opfern. Hinter Glas liegt ein riesiger Haufen Koffer ermordeter Juden. Ich lese die auf die Koffer gepinselten Namen. Klara Goldstein. Margarete Glaser. Waisenkind Hana Fuchs. Wahrscheinlich wurden sie alle kurz nach der Ankunft vergast. An den Wänden hängen Hunderte Fotos von Lagerinsassen. Luis Krakauer. Jozef Grünholz. Miroslav Kubik. Ich schaue in die Gesichter und merke, dass es mir völlig unmöglich ist, das Leid dieser Menschen zu ermessen. Auf einmal senkt sich der ganze Schrecken dieses Ortes wie ein schwarzer Schleier über mein Gemüt, und ich muss mir ein paar Tränen aus den Augen wischen.
Später stehe ich an der Ruine der Gaskammer II. Kurz vor ihrem Abzug im Januar 1945 haben die Nazis das Gebäude gesprengt, dennoch kann man gut erkennen, wo der unterirdische Raum war, in dem die todgeweihten Juden ihre Kleider ablegen mussten – und wo sie starben. Knapp 2500 Menschen passten in die Gaskammer, von oben wurde Zyklon B eingeworfen, nach 15 Minuten waren alle tot. Mit mir starren fünfzig andere Leute in die Grube hinab. Coole Kids in Röhrenjeans, friedensbewegte Frauen, ein Afrikaner. Ein Abbild der liberalen Multikulti-Gesellschaft – das genaue Gegenteil dessen, was Hitler erreichen wollte. Auschwitz hat unermesslich viel Leid gespeichert, gleichzeitig wird nirgendwo so deutlich, wie komplett die Nazis gescheitert sind. Ein Konzentrationslager kann manchmal auch ein hoffnungsvoller Ort sein.
Anreise über Krakau, von dort mit dem Bus oder Zug weiter nach Oswiecim/Auschwitz. Geführte Touren mit Studiosus Reisen.