Langstreckenflüge können einen ganz schön mitnehmen. Das schlechte Essen, die kalten Füße, das quengelnde Kind auf 17A. Manche ertragen die Enge nur mit Beruhigungsmitteln, andere warten stundenlang mit nassen Händen auf den unmittelbar bevorstehenden Absturz. Mich belasten zehn Kilometer über dem Meer andere Dinge. Ich bin plötzlich sehr nah am Wasser gebaut, wenn ich dort oben Filme sehe, und weiß nicht, warum.
Dabei habe ich mich sonst im Leben gut im Griff. Ja, manch einer hält mich für einen herzlosen Klotz, weil ich praktisch nie weine, nicht mal auf Beerdigungen. Im Kino bringe ich selbst sogenannte Tearjerker wie The King's Speech trockenen Auges über die Bühne, während sich um mich herum alle Schleusen öffnen. Begebe ich mich jedoch in die Lüfte, ist es einerlei, was läuft. Ich verwandle mich zurück in den kleinen Jungen, der bei Lassies Heimweh die Fassung verliert (ja, als Kind habe ich noch öfter geweint).
So wie neulich auf dem Flug nach New York. Die Bordbeleuchtung war längst erloschen, die Gesichter ins Blau der Lehnen-Bildschirme getaucht. Kollege Bauer, der mit mir reiste, hatte Planet der Affen: Survival empfohlen. »Musst du sehen, ist groooß!«, waren seine Worte. Blockbuster-Action, dachte ich noch, da kann nichts anbrennen. Survival erzählt vom finalen Krieg zwischen hyperintelligenten Affen und den letzten Menschen. Ein technisch atemberaubender Film, in dem viel geschossen und wenig gesprochen wird, lose angelehnt an Apocalypse Now. Man könnte wunderbar dazu einen Eimer Popcorn plattmachen, aber mich bewegten andere Fragen: Dieser wissende Blick in den Augen von Maurice, dem gütigen Orang-Utan – spiegelt sich in ihm nicht die ganze Erhabenheit unserer gemeinsamen Evolutionsgeschichte? Mein Gott, zu welch unglaublicher Blüte wir beide es doch gebracht haben, Mensch und Affe!
Hach.
Und warum muss Caesar, der heroische Anführer der Affen, am Schluss sterben? Tapfer hält er seine tödliche Wunde vor allen geheim, ehe er wie ein Baum fällt. Warum ist es ihm nicht vergönnt, nach all den Schlachten mit seiner Sippe in die Morgenröte einer neuen Zukunft aufzubrechen? Gebt mir ein Taschentuch!
Manchmal hat man einen schlechten Tag, würde meine Mutter sagen, die sich auch an guten Tagen keiner Träne schämt. Nicht ich, bei mir ist das immer so zwischen Himmel und Erde. Es ist peinlich.
Vor ein paar Jahren sah ich auf gleicher Strecke Lincoln, ein völlig unverdächtiges Historiendrama mit Daniel Day-Lewis, das hauptsächlich aus gedrechselten Wortgefechten im US-Repräsentantenhaus besteht. Meine Frau schlief friedlich neben mir. Gott sei Dank. Sie hätte mich sonst zum ersten Mal in einem Zustand der Auflösung gesehen. Der einsame Kampf des Präsidenten gegen die Sklaverei und die Beharrungskräfte seiner Zeit hatten mich in solch epische Ergriffenheit versetzt, dass ich mehrmals auf Pause drücken musste, um mich zu schnäuzen. Inzwischen weiß ich: Ich bin nicht allein. In einer Umfrage der Fluglinie Virgin Atlantic gaben 41 Prozent der männlichen Passagiere an, bei Filmen weinen zu müssen.
I feel you, guys!
Bei Virgin Atlantic blendet man nun vor bestimmten Filmen »Weinwarnungen« ein. »Please alert Cabin Crew if you need a shoulder to cry on« heißt es dann, und eine Bordkraft soll in dem Fall herbeieilen, um zu trösten.
Auch Wissenschaftler haben sich mit dem Thema befasst. Es ist die Höhe, sagen die Psychologen. Das existenzielle Ausgeliefertsein, umgeben von Fremden, mache uns so verletzlich. Es ist der niedrige Sauerstoffgehalt in der Kabinenluft, sagen die Mediziner, eine Art Höhenkoller, den selbst harte Hunde wie Reinhold Messner nicht wegstecken können. Wie sonst ist der Heulkrampf vor laufender Kamera zu erklären, der Messner minutenlang schüttelte, als ihn Werner Herzog 1984 für eine Fernsehdokumentation im Basislager des Gasherbrum besuchte, um nach seinem vermissten Bruder zu fragen?
Sei es, wie es sei. Am Rande der Stratosphäre hilft mir das nicht weiter. Muss es auch nicht. Man sollte sich über jede Gelegenheit freuen, bei der man sich mal wieder spürt. Anderen fällt das leichter. Sie meditieren, gehen zum Yoga oder einfach ins Kino. Ich muss dafür extra in ein Flugzeug steigen. Es ist zum Heulen.
Illustration: Anna Haifisch