Als Johnny klein war, fuhren wir einmal nach Kalifornien und lasen Wolfsblut von Jack London. Wir waren begeistert, dass das wilde Tier in genau der Gegend domestiziert wurde, durch die wir gerade streiften. Der echte Ort wurde aufgewertet, weil er auch ein literarischer Schauplatz war.
Umgekehrt muss man Angst haben, wenn man etwas gelesen hat und an den echten Ort kommt, dass er dem literarischen nicht standhält. Ich hatte als Kind Lederstrumpf und Winnetou verschlungen und mich nach der Prärie gesehnt, weil es dort von schönen Indianern und schönen Pferden nur so zu wimmeln schien. Ich hatte es nie dorthin geschafft. Vielleicht war es gut so. Karl May hatte seine Indianerbücher sowieso geschrieben, ohne in Amerika gewesen zu sein.
Dann ging Johnny nach Kanada, für ein halbes Jahr zum Schüleraustausch. Hazlet, Saskatchewan, so hatte der Zufall es entschieden. Wir googelten. Hazlet hat 300 Einwohner und war kaum auf der Karte zu finden. Aber auf Google Earth. Wir sahen Farmen, drumherum wogendes Korn auf endlosen Feldern. Plattes Land. Oder, schöner gesagt: die Prärie, endlich. Nur leider kaum noch Indianer und Pferde.
Wir zoomten mit Google Earth auf Hazlet: viel Schnee, eine Straßenkreuzung, ein Pick-up-Truck und ein Quad vor einem von drei weiß gestrichenen Holzhäusern. Sehr, sehr klein sah er aus, dieser Ort. Und fremd. Aber es war tröstlich zu wissen, dass Johnny, der damals erst 15 war, zwar ans Ende der Welt fliegen würde, ich aber dank Google Earth das Gefühl hatte, das Land wenigstens ein kleines bisschen ausgekundschaftet zu haben. Und mir jene Straßenkreuzung jederzeit wieder anschauen könnte.
Als Johnny weg war, checkte ich nicht mehr nur das Wetter in meiner Stadt, sondern auch die Temperatur in Hazlet. Das machte ihm nichts aus, und ich konnte mich ihm näher fühlen. Er ging mit seiner Gastfamilie zum Snowboarden in Fernie, British Columbia. Ich klickte mich durch Fotos vom Alpine Resort in Fernie. Schneetreiben, Skifahrer, rechts und links der Piste verschneite Fichten. Die Gipfel der Berge lagen auf fast jedem Foto in den Wolken. Ich las, Fernie sei die einzige Stadt in Kanada, die rundherum von den Rocky Mountains umgeben ist. Und dass Kohle das große Geschäft gewesen sei, bevor der Skitourismus übernommen habe. Ich blieb bis spät in die Nacht am Laptop hängen und trieb mich in den Rocky Mountains herum, wanderte mit der Maus über den Lake Louise bis hoch nach Calgary, machte schließlich noch einen Schlenker nach Vancouver und Vancouver Island.
Seitdem war Johnny in Thailand, Malaysia, Indonesien, in Mittelamerika, der Mongolei und in Indien. In keiner dieser Gegenden war ich je. Aber ich sah mir Java von oben an, näherte mich, entfernte mich wieder, war überrascht, wie groß die Insel ist, besonders im Vergleich zum viel bekannteren Bali. Ich las von Erdbeben und Tsunamis und dem Schlammvulkan Sidoarjo, das ist laut Wikipedia »eine große, 140 Grad Celsius heiße Schlammfontäne«, die Dörfer und Städte im Osten Javas überschwemmte, nachdem man an der falschen Stelle nach Öl gebohrt hatte.
Auf einer Bergwanderung in Mittelamerika begegnete Johnny einem Jungen aus San Salvador, der ihn zu sich nach Hause einlud. Ich las, dass in keiner Stadt der Welt so viele Menschen auf offener Straße erschossen werden wie in San Salvador. Ich schrieb: Johnny, muss das sein, San Salvador? Er schrieb, Mama, ich bin doch nicht blöd und gehe da hin, wo die Leute erschossen werden. Vielleicht doch nicht so gut, dachte ich dann, in einer freien halben Stunde am Abend wild herumzuklicken. Man soll ja auch keine Krankheiten googeln. Aber lassen kann ich beides nicht.
Mit Google Earth flog ich auf Johnnys Spuren über Leh in Ladakh im Norden Indiens, entdeckte den Leh-Manali-Trail und das Parvati Valley, entlegene Sieben- und Achttausender, tibetische Dörfer, auf den Fotos sah ich reißende Flüsse und Tibetantilopen. Ich war fast aufgeregt, so real erschien mir die Welt auf meinem Laptop. Auch wenn ich nicht einmal wusste, wie alt diese Aufnahmen waren.
Bisher hatte ich mir schwierige Städtenamen nicht merken können, wenn ich nicht selbst dort gewesen war. Auch nicht, wo welche der Städte, an deren Namen ich mich nicht so richtig erinnerte, auf der Karte zu finden waren. Denn auch wenn ich in meinem Leben Hunderte Male den Globus gedreht und studiert hatte, mir Hunderte Male eine Karte von Asien oder Afrika angeschaut hatte mit dem Wunsch, sie zu verinnerlichen, war ich immer wieder überrascht, wie neu mir die Karte bei jedem Mal erschien, sodass ich sie mir wieder anguckte. Nur wenn ich selbst durch ein Land fahre, behalte ich von der Karte fast jedes Detail.
Doch es war mein Kind, das verreiste. Das eigene Kind, das ja immer ein Teil von einem bleibt, auch wenn es groß ist. Also fuhr ein Teil von mir nach Indien, Indonesien, Panama, El Salvador. Und Google Earth, die Wetter-App auf dem Handy, Wikipedia, Skype, Viber ließen mich mitfahren. Indem ich so viel von den Orten sehen und erfahren konnte, spürte ich sie fast körperlich.
Von Indien konnte ich mich kaum noch lösen. So las ich in der Zeit, in der Johnny dort war, Das Gleichgewicht der Welt von Rohinton Mistry. Dieser Roman spielt ein wenig im Himalaja und größtenteils in Mumbai. Ein trauriger Roman, der nicht so viel Lust macht, nach Indien zu fahren wie die Fotos vom Parvati Valley. Aber vielleicht ist das Buch der Wirklichkeit in Indien ja näher als die Bilder auf Google Earth.
Illustration: Gwendal Le Bec