An einem der letzten schönen Sommertage wurde ich zum peinlichsten Menschen der Welt. Ich war mit meinem alten Schulfreund K. zum See gefahren. Dort angekommen, fiel mir ein, dass ich nur meinen alten Blümchen-Bikini dabeihatte. Ich wusste, dass K. Blumendrucke total geschmacklos findet. Also zog ich mich ganz aus. Leider fand K. das noch viel peinlicher. Er setzte sich zwei Meter weg von mir und murmelte: »Nacktbaden ist ja wirklich das Allerletzte.«
Vermutlich hätte ich es K. nicht recht machen können, nicht einmal mit einem Burkini. K. findet alles schlimm. Ich bin peinlich, du bist peinlich, er, sie, es ist peinlich, wir sind peinlich, ihr und sie. Eine Frau auf Rollerblades: peinlich! Ein Mann mit Fahrradhelm: peinlich! Musik hören und laut mitsingen: peinlich, peinlich, peinlich.
Manchmal habe ich daran gedacht, K. zu sedieren und in ein Hippie-Camp zu entführen, wo er lernen würde, seinen Namen zu tanzen und Bäume zu umarmen. Er müsste dort all die Dinge tun, die weit oben auf seiner langen Liste der Peinlichkeit stehen. Denn es ist doch klar, dass man mit so einer Engstirnigkeit kein gutes Leben führen kann. K. ist geizig. Mit sich selbst. Mit anderen.
In den vergangenen Monaten ist viel über die deutsche Austeritätspolitik geredet worden. Das Problem ist aber nicht nur, dass Wolfgang Schäuble halb Europa seinen Sparkurs aufzwingen will. Das Problem ist noch viel größer: Wir alle sind zu Austeritätsfanatikern geworden, in jeder Lebenslage. Unser innerer Finanzminister hält uns permanent zur Sparsamkeit an. Und so sparen wir: mit unserem Interesse an anderen Menschen, anderen Einstellungen, anderen Meinungen. Dafür sind wir gut darin, uns über andere zu erheben, lustig zu machen und zu empören. Ich beobachte das jeden Tag in meiner Facebook-Timeline oder beim Essen mit Bekannten. Egal ob es um Varoufakis geht, den Feminismus oder Flüchtlinge: Immer spalten sich die Diskutierenden sofort in zwei Gruppen, die erbarmungslos übereinander herfallen, ohne jede Empathie, ohne jede Neugierde an einer anderen Sicht auf die Welt. Die Griechen sind faul - die Deutschen sind neo-liberale Folterknechte. Will man als Frau mit einem Kind weiterarbeiten, ist man eine Rabenmutter - will man als Frau mit Kind länger zu Hause bleiben, eine reaktionäre Hausmami. Klatschjournalisten blicken nicht mehr zu Promis auf, sondern auf sie herunter, sie erstellen Listen der 20 peinlichsten Auftritte von Victoria Beckham und erregen sich über die Frage, warum Madonna immer noch ins Fitnessstudio geht. Der eine Kollege zieht sich zu chic an - der andere zu schlampig. Die Nachbarn haben so einen schlechten Musikgeschmack. Und warum tanzt die dicke Frau da hinten eigentlich so exaltiert?
Vor knapp einem Jahr veröffentlichte ich einen Artikel, in dem ich erwähnte, dass ich nach Israel gehe. Jetzt lebe ich in Berlin und muss jedem, dem ich begegne, erklären, warum ich wieder hier bin. Weil: entweder oder! Beides geht nicht. Wenn ich wegziehe, heißt das, dass ich Deutschland ablehne. Dann habe ich aber auch nicht das Recht, wieder zurückzukommen. Ich antworte immer, dass wir ja 2015 haben und nicht 1930 und dass ich im Übrigen nicht drei Koffer gepackt habe und auf ein Schiff gestiegen bin, sondern in zwei Wohnungen lebe und mit Easyjet für 150 Euro hin- und zurückfliege, und dass ich es genieße, zwei großartige Städte zu erleben. Woher kommt diese Enge? Warum denkt niemand mehr über den Teller- oder Bildschirmrand hinaus?
Ich glaube nicht, dass die Menschen früher großzügiger waren. Aber das mussten sie auch nicht. Etwas holzschnittartig gezeichnet: Im Dorf kannte sich jeder, und jeder redete über jeden. Man machte sich auch durchaus über die schrullige Katzenfrau lustig und den einsamen Pfarrer. Aber es gab eben auch viele Gemeinsamkeiten. Man traf sich am Sonntag in der Kirche und danach im Wirtshaus, man sprach denselben Dialekt, und mittags gab es Knödel. In der modernen Stadt ist das ganz anders. Der Kollege im Büro gegenüber kommt aus Indien und redet unfassbar schnelles Oxford-Englisch. Im Fußballstadion sind nicht mehr die Proletarier unter sich, man kann dort auch eine lesbische Archäologie-Professorin antreffen. Auf Instagram und Facebook begegne ich hundert verschiedenen Meinungen und tausend Arten, das Leben zu führen. Anscheinend wird uns das aber zu viel. Wir entwickeln eine Anderen-Allergie.
Es ist ja auch nicht einfach. Seit der Antike beschäftigt sich die Philosophie mit der Frage: Wer bin ich? Und was heißt das für meine Beziehungen zu meinen Mitmenschen, zur Welt? Die Antwort, die immer gegeben wurde, war: Wenn ich wirklich ein Individuum bin, dann bin ich auch anders als die anderen, dann ist niemand wie ich, das heißt aber auch: Dann bin ich wirklich allein.
Wir müssen also lernen, mit Einsamkeit umzugehen. Mein Freund K. kann das offensichtlich noch nicht. Er ist, wie gesagt, kein offenherziger Mensch, aber trägt jemand die gleichen Sneakers wie er oder das gleiche T-Shirt, will er demjenigen am liebsten um den Hals fallen. Eine Welt, in der sich K. wohlfühlt, ist von Millionen Klonen von ihm bevölkert.
Der Berliner Kulturwissenschaftler Byung-Chul Han glaubt, dass sich der Mensch der Gegenwart immer mehr mit sich selbst beschäftigt, sich optimiert, überall nur noch sich selbst begegnet und so immer narzisstischer wird. Das narzisstische Subjekt aber könne seine Grenzen nicht klar festlegen. »So verschwimmt die Grenze zwischen ihm und dem anderen. Ihm erscheint die Welt nur in Abschattungen seiner selbst. Er ist nicht fähig, den anderen in seiner Andersheit zu erkennen und diese Andersheit anzuerkennen. Bedeutungen gibt es nur dort, wo er sich selbst irgendwie wiedererkennt.«
Ich glaube, diese Anderen-Allergie kann man auch an unserem Umgang mit den Flüchtlingen beobachten. Entweder man fürchtet sich pauschal vor Flüchtlingen beziehungsweise ist zumindest argwöhnisch. Sie haben auch noch Smartphones. Na, die müssen ja Geld haben. Weil man sie jetzt mit einem Rucksack auf einem Schlauchboot sieht, kann sich niemand vorstellen, dass diese Menschen noch vor wenigen Monaten in Wohnungen lebten und Flachbildschirme besaßen. Oder man übertreibt es in die andere Richtung und ersetzt Angst, Abwehr und Unverständnis durch Überidentifikation. Christian Streich, der Trainer des SC Freiburg, erklärte kürzlich, wir müssten schon deswegen aufnahmebereit sein, weil wir alle Flüchtlinge seien. Dafür wurde Streich gefeiert. In den Zeitungen las ich, die Ostdeutschen müssten die Flüchtlinge verstehen, weil sie selbst ja auch geflohen seien oder zumindest fliehen wollten. Die Menschen, die am Münchner Hauptbahnhof Flüchtlinge bejubelten und ihnen Kuscheltiere zuwarfen, waren auch deswegen so gerührt, weil sie sich in die Haut der Flüchtlinge versetzten. Und es heißt ja oft, dass die Syrer genauso gut ausgebildet seien wie Deutsche. Natürlich ist diese Haltung sympathischer als die eines Rassisten. Aber ist es nicht merkwürdig, dass Flüchtlinge oft nur akzeptiert werden, wenn sie sich möglichst rasch ihrer Umgebung anpassen? Und was passiert, sobald wir erkennen, dass die anderen, die wir für so ähnlich halten, uns doch nicht so ähnlich sind?
Vor einiger Zeit war ich für eine Reisereportage einige Tage in der Schweiz unterwegs und habe Interviews mit Hoteldirektoren geführt. Jeder von ihnen hatte viel Zeit im Ausland verbracht, in den USA, in Südamerika, in China, im arabischen Raum. Jeder von ihnen traf jeden Tag auf fremde, seltsame, merkwürdige Personen, ob das nun Geschäftsreisende aus der Mongolei waren oder ein Appenzeller Swingerclub auf Kaffeefahrt. Was mich an den Hoteldirektoren faszinierte, war ihre Gelassenheit. Sie hatten verstanden, dass Menschen unterschiedlich sind, dass wir aus verschiedenen Perspektiven auf die Welt blicken, dass es ein Richtig und ein Falsch erst einmal nicht gibt.
Eine solche Haltung kommt nicht automatisch. Wir müssen uns unsere Anderen-Allergie erst mühsam abtrainieren. Die Fähigkeiten und das Wissen dazu haben wir. Und es macht doch mehr Spaß, viele unterschiedliche Meinungen zu einem Thema zu hören als immer nur die gleiche. Es kann spannend sein, sich mit den Ansichten eines transsexuellen Frauenhassers auseinanderzusetzen oder mit denen eines griechischen Neoliberalen. Mein Freund K. freut sich, wenn er in anderen Wohnungen Bücher entdeckt, die auch er gelesen hat. Wäre es nicht besser, er würde sich über Bücher freuen, die er noch nicht kennt? Wenn wir nicht so sehr mit unseren Gefühlen und Interessen geizen, wird unser Leben nicht ärmer, sondern reicher. Dann können wir auch der dicken Frau ihr exaltiertes Tanzen durchgehen lassen. Und das bedeutet: Wir können selbst exaltiert tanzen, ohne dass wir darüber nachdenken, wie peinlich das jetzt ist. Und wir können uns einen Blümchen-Bikini anziehen. Denn eigene Großzügigkeit macht auch andere großzügig. Vergangenes Jahr wollte ich einen Artikel über die israelische Kunstszene schreiben. Ein Galerist wurde mir empfohlen. Ich schrieb ihm eine Facebook-Nachricht und bekam erst fünf Tage später eine Antwort. Fünf Tage, dachte ich, wie frech von ihm, dann nehme ich eben jemand anderen. Ein paar Tage später rief er mich an – und redete total langsam und leise. Ich rede total laut und schnell und kann deswegen Langsam-und-leise-Redner nicht ausstehen, mir fehlen die Nerven, ihnen zuzuhören. Wir verabredeten uns für den nächsten Nachmittag in einem Café. Zehn Minuten vor dem Treffen schickte er mir ein Selfie von sich, damit ich ihn auch erkenne – dabei saß er allein im Café.
Ich schwor mir, mit diesem Langsam-Selfie-Idioten maximal zehn Minuten zu sprechen, aber aus den zehn Minuten wurden sechs Stunden und dann noch mehr. Er redet heute immer noch langsam und leise, ich nenne ihn »die Schnecke«. Er ist unorganisiert, unstrukturiert und unordentlich. Im Dezember erwarten wir unser erstes Kind.
Illustration: Luke Stephenson