»Der Rubikon ist überschritten«

Klar, so ein Satz ist schnell auf die Mailbox gesprochen. Dabei kann nicht mal Christian Wulff sagen, wo genau der Fluss liegt. Eine Suche in Norditalien.

Hier irgendwo muss es gewesen sein. Hier zwischen Cesena und Rimini, in der Region Emilia-Romagna, wo die Abendsonne die Felder in rotes Licht taucht und in den Winternächten Nebel wie eine Decke auf der Gegend liegt. Hier beschloss Cäsar vor 2061 Jahren, am 10. Januar 49 v. Chr., nicht mehr länger an sich zu halten und etwas gegen seinen Widersacher Pompeius zu unternehmen, der an seiner Entmachtung arbeitete.

Cäsar wollte ein unmissverständliches Zeichen setzen, indem er den Rubikon überschritt – jenen Fluss, der die Provinz Gallia cisalpina von Italien trennte. Was das bedeutete, war klar: Krieg. Keine Chance mehr auf gütliche Einigung, »alea iacta est«, die Würfel sind gefallen. Die Grenzüberschreitung hat sich tief ins Gedächtnis Europas eingegraben. Bis heute reden humanistisch gebildete Menschen, wenn sie keine Lust mehr auf Harmonie haben, vom Rubikon. Wie Christian Wulff, als er der Mailbox von Kai Diekmann erzählte, jetzt habe er dessen Manöver satt.

Aber wo genau überschritt Cäsar den Rubikon? Der Witz ist: Man kann es nicht mit Sicherheit sagen. Die großen Römerstraßen jedenfalls nahm der Feldherr nicht. Er wollte seinen Krieg unbemerkt beginnen. Beim Abendessen in Ravenna, so heißt es, tat er noch, als sei alles wie immer. Er aß, er trank und vergnügte sich angeblich gleich mit mehreren Frauen. Danach begab er sich heimlich mit kleinem Gefolge auf den Weg nach Ariminum, heute Rimini. Laut Legende verirrte er sich im Nebel. So kommt es, dass heute gleich drei Orte an drei Flüsschen behaupten, die Geschichte habe sich bei ihnen ereignet.

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Am nachdrücklichsten reklamiert Savignano sul Rubicone die historische Würde – ein Ort mit 17 000 Einwohnern, einer großen Piazza und einer kleinen Brücke über einen Bach. Das soll der berühmte Rubikon sein? Aber ja, sagt man in der Rubiconia Accademia dei Filopatridi, der Akademie für Lokalgeschichte in einem alten Palazzo gleich neben dem Rathaus. Es gibt sie bereits seit dem 17. Jahrhundert, und sie verfügt über eine imposante Bibliothek. »Dies ist das wichtigste Dokument, das beweist, dass unser Fluss der Rubikon ist«, sagt Elio Raboni, 67, und schafft mit heiligem Ernst die Tabula Peutingeriana herbei, die Peutinger’sche Tafel. Die Kartenrolle ist eine Faksimile-Kopie einer Landkarte, die das römische Straßennetz im vierten Jahrhundert darstellt. »Da«, sagt er und zeigt auf die Karte. »Rubicu« steht da mit roter Schrift. Laut Karte befindet sich der Fluss neben einer Siedlung namens »Ad confluentes« – und diese lag, wo heute Savignano liegt. Außerdem gaben die bekanntlich sehr präzisen Römer die Entfernung vom Rubikon nach Ariminum mit zwölf Römischen Meilen an, umgerechnet 17, 7 Kilometer. Das kommt hin und bei den Savignanesern an. Also muss ihr Fluss der Rubikon sein. So ist es immerhin auch in den heutigen Landkarten verzeichnet.

»Pah«, sagt Rino Zoffoli aus Calisese, 2100 Einwohner, rund zehn Kilometer nordwestlich. »Rubikon heißt der Fluss von denen doch nur, weil Mussolini das 1933 per Dekret so entschieden hat!« Der ehemalige Lehrer Zoffoli ist fest der Auffassung, der örtliche Bach namens Pisciatello sei der historische Rubikon. Kichernd sitzt der 75-Jährige in einer Bar neben der Kirche von Calisese, die wiederum nicht weit von einer winzigen Brücke liegt, die über einen winzigen Bach führt. Hübsch anzusehen, aber ein Rinnsal.

Die Bar ist das Hauptquartier der Associazione Culturale Pro Rubicone, des Kulturvereins zugunsten des Rubikon, den Zoffoli, der Lehrer, vor 21 Jahren gegründet hat. An der Wand hängt eine Karte, die den Pisciatello als Rubikon ausweist, in einer Vitrine werden Bücher verwahrt, die beweisen, was sie beweisen sollen. Doch warum entschied Mussolini damals, dass der Fluss in Savignano der Rubikon sei? »Aus zwei Gründen«, sagt Zoffoli. »Zum einen gab es dort viele, die ihn unterstützten.« Zum anderen, das sei allerdings nicht offiziell, lacht er, »hatte er dort eine Geliebte«.

»Absolut falsch, ein Gerücht«, hält Elio Raboni von der Akademie in Savignano dagegen: »Mussolini hatte zwar viele Geliebte, aber keine bei uns!« Zwar entspreche es den Tatsachen, dass ein hiesiger Marchese den Duce gebeten hatte, die Sache zu regeln – das sei allerdings aufgrund unumstößlicher Beweise geschehen. Schon unter Gelehrten des 17. Jahrhunderts sei klar gewesen, dass Savignano am Rubicone liegt. Zoffoli hält dagegen, dass die Kirche in Calisese schon seit dem ersten Jahrtausend San Martino in Rubicone hieß. Außerdem habe sich auch die Diözesangrenze zwischen Cesena und Rimini seit dem 5. Jahrhundert an ihrem Bach orientiert, er sei also immer ein wichtiger Grenzfluss gewesen.

»Die Sache ist komplex«, sagt Raboni von der Akademie in Savignano, und der Rubikon sei seit dem 17. Jahrhundert ein beliebtes Salongespräch. Gab das Wetter nichts her, diskutierte man eben über den Fluss.

Die Leute in Savignano und Calisese scheint das nicht im Geringsten zu stören; wenn einer »Doch!« sagt, sagt der andere »Doppeldoch!« Zur Bekräftigung ihrer Ansprüche stellten beide Dörfer am Ufer ihres Baches jeweils einen Cäsar auf. Der in Savignano ist imposant und eine Kopie des Cäsars auf dem Kapitol in Rom. Der in Calisese ist zwar kleiner, »war aber zuerst da«. Außerdem: »Das Werk eines lokalen Künstlers. Nicht die Kopie einer Kopie!«

Gut sechs Kilometer von Savignano entfernt, in einer hübschen mittelalterlichen Stadt namens Santarcangelo, gibt es noch einen dritten Konkurrenten. Er meint: »Für mich ist es logisch, dass der Uso der Rubicone ist.« Alfonso Marchi betreibt mit seinen 74 Jahren immer noch eine Stoffdruckerei. In seinem Arbeitsraum hängt eine Karte aus einem alten Schulatlas, die zeigt, dass der Rubikon neben Santarcangelo verlief. Der Bach, der heute Uso genannt wird, ist zwar der unansehnlichste der drei – eine Brücke führt von einem Supermarkt zu einem Industriegebiet –, aber auch der größte. Außerdem hat auch Marchi einen Beweis. Er präsentiert die Kopie einer Zeichnung aus dem 18. Jahrhundert, die Neptun neben einer Brücke zeigt. »Heic Italiae finis quondam Rubicon« steht da: »Hier fließt der Rubikon, der einst die Grenze Italiens war.« Und im Fluss, der unter der Brücke durchfließt: »Lusus«, der alte Name für Uso. Von der Brücke existiert noch eine Ruine – allerdings an einer Stelle, an der heute der Fluss nicht mehr fließt. Viele Bücher sagen, dass der Uso der Rubikon sei, behauptet Marchi.

Letztlich könnte es sogar sein, dass alle Flüsse miteinander verwandt sind. Vor Cäsars Zeiten war hier ein Sumpfgebiet. Außerdem verschob sich der Lauf des Rubikons in den Jahrhunderten seit Cäsars Flussüberquerung durch Klimaveränderungen oder durch Menschenhand, damit er nicht über die Ufer trete.

»Im Grunde müssten wir Cäsar fragen«, meint Alfonso Marchi aus Santarcangelo gelassen. Doch ob der große Imperator die erwünschte Auskunft erteilen könnte, ist fraglich. Denn jene Nacht vor 2061 Jahren war neblig, und Cäsar hatte sich verirrt. Außerdem wäre eine Antwort kaum wünschenswert. Denn dann würde ja endlich Frieden herrschen.

Fotos: Tanja Kernweiss