Stetiges Wachstum

Je länger Kerzen brennen, desto schöner werden sie. Ein paar zündende Ideen für die staade Zeit.

Das Buch ist tot, der Journalismus ist tot und die Glühbirne sowieso – wie weit man mit solchen Abgesängen kommt, zeigt das Beispiel der Kerze. Eigentlich ein Leuchtmittel des Mittelalters, hätte sie schon längst, mindestens aber mit Einführung der Elektrizität erloschen sein müssen. Aber sie brennt bekanntlich munter weiter, vor allem zur Weihnachtszeit, wenn die Menschen sich daran erinnen, wie warm und festlich ihr Schein ist. Und wie flüchtig und wertvoll er einmal war. Ein Windhauch, und, pfft, das bisschen Geborgenheit und Licht ist dahin. Letztlich war die Kerze immer auch eine sublimierte Form der Fackel, mit der wir aus der Finsternis der Existenz tappten. Und natürlich eine Metapher für das Leben schlechthin, das selbst für einen Schmetterlingsfreund wie Vladimir Nabokov nicht viel mehr war als »ein kurzer Lichtspalt zwischen zwei Ewigkeiten des Dunkels«.

Heute ist die Kerze ein Wohnaccessoire, zuständig für jene Atmosphäre der Behaglichkeit, die wir für Romantik halten (dabei waren die echten Romantiker eher lichtscheue Typen). Noch zu Zeiten Goethes war die sauber brennende Bienenwachskerze eine Luxusobjekt, von dem die einfachen Leute nur träumen konnten – sie stellten ihre qualmenden Kerzen aus Rindernierenfett und Hammeltalg her; und so rochen sie dann auch. All das sollte man im Hinterkopf haben, wenn man die Fotoserie Wachs des Künstlers Martin Fengel betrachtet, der einen frischen Blick auf die längst vergangene Mode der Tropfkerzen wirft. Wir erinnern uns: Tropfkerzen, das waren jene stalagmitengleichen Gebilde, die in den Siebzigerjahren in Aussteiger-WGs, Pizzerien und räucherstäbchenumwölkten Partykellern herumstanden – oder jetzt noch in thailändischen Kifferhütten stehen. Dort hat Fengel eine gesehen und war gebannt von ihrer Strahlkraft: »Sie kam mir wie eingefrorene Zeit vor.«

Fengels Bilder sehen nach Jackson Pollock aus, doch während der die kreative Eruption feierte und seine Farbe wie im Rausch auf die Leinwand sudelte, ist das Tropfkerzenherstellen eine meditative Prozedur. Man nehme eine bauchige Chiantiflasche, ein paar möglichst bunte Kerzen und tropfe los. Mit ruhiger Hand und viel Geduld. So wird aus Wachs, dessen Bestimmung es ist, sich möglichst rückstandsfrei in Rauch aufzulösen, ein Kunstwerk, das bleibt. Thomas BärnthalerKerzen zum Tropfkerzenmachen, für die Weihnachtsdekoration oder einfach nur zum Verschenken finden Sie auf den nächsten Seiten.

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Fotos: Martin Fengel / André Mühling