Lieber weiter zu zweit als wieder allein

Ist die Beziehung am Ende, sollte man sich trennen. Oder auch nicht. Die Doppel-Singles. Zu Besuch bei Paaren, die längst keine mehr sind.

Peter setzt sich, Anna wischt Brotkrümel, vom Frühstück übrig geblieben, an den Rand des Tisches und stellt den Honig weg. Es ist ein Sommerabend. Magst du einen Eistee?, fragt er, das war früher immer ihr gemeinsames Getränk. Sie sagt, sie habe zu viel Kaffee getrunken, in der Arbeit. Sie arbeitet in einem Architekturbüro. Sie lächelt und sieht auf die Uhr. Er hat sich mit Freunden verabredet. Sie muss noch den Koffer packen. Er will sich erholen von dem Tag, IT-Branche. Vor der Küche hängt ein Balkon, zwei Stühle, ein Tisch – fast sieht er gedeckt aus.

Das Telefon klingelt. Sie sagt: »Bestimmt einer seiner Freunde.« Sie hat noch viel vor, das Meeting morgen, in einer anderen Stadt. Eigentlich geht sie nicht mehr ans Telefon in der gemeinsamen Wohnung. Sie hat ihr Handy und die zwei kleineren Zimmer in den 78 Quadratmetern. Er bewohnt den größten Raum. Neben dem Bücherregal steht ein weißes Schrankmodul, ausfahrbar zum Klappbett. Hier schläft er nun oft, seit zwei Monaten.

Immer öfter schlafen sie nun getrennt, doch zwei Betten, das wäre zu offensichtlich. Sie frühstücken zu unterschiedlichen Zeiten, am Wochenende sehen sie sich kaum noch. Die Schnittmenge ihrer Freundeskreise wird kleiner, ihre gemeinsamen Interessen weniger. Er fährt Fahrrad, raus in die Natur, sie geht ins nächste Café. Ob sie ein Paar sind? Seit sechs Jahren, ja. Beide sind nun Anfang vierzig. Ob sie glücklich sind? Er sagt: »Ich bin gern manchmal allein.« Sie sagt: »Ich fühle mich nie einsam, wir sind ja zu zweit.«

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Wozu man mit jemandem leben soll, wenn man ihn nicht mehr liebt, fragte die Autorin Sibylle Berg kürzlich in einem Plädoyer für die wohltemperierte Zweisamkeit mit dem Titel Liebe ist gut, Vernunft ist besser. Ihre Antwort: »Wozu alleine bleiben?« Die Zweckgemeinschaft werde nur von einem kitschigen Volksempfinden verurteilt. Völlig zu Unrecht. Das zeigt auch die Tatsache, dass die Lebenserwartung von Singles vier Jahre niedriger ist. Im Gegensatz zu den siebziger Jahren, als es schick war, sich zu trennen, wollen Paare heute oft zusammenbleiben, sagen Paartherapeuten, auch wenn sie nur noch zehn Minuten am Tag reden, getrennt schlafen, sich wegen jeder Kleinigkeit streiten. Bei einer Zweckehe verständlich, oft sind dann Kinder der Grund, gemeinsame Finanzen, um die Form zu wahren. Aber warum leben Menschen zu zweit, als seien sie ein Paar, das sie aber doch nicht sind, anscheinend völlig freiwillig, wenn man sich formlos trennen könnte? Dieses Doppel-Single-Dasein ist irgendwo angesiedelt zwischen Liebe und WG.

Wechselnde Lebenspartner, serielle Monogamie, oszillierendes Single-Dasein: All diese diffusen Beziehungsmodelle haben sich anscheinend in den vergangenen Jahren wenig bewährt. Oder warum schaffen es momentan Ratgeber mit Titeln wie Liebe dich selbst, und es ist egal, wen du heiratest zum Bestseller? Könnte sich die Vernunftgemeinschaft wie ein evolutionärer Extrakt bewahrheiten, befreit von den Wirren der Romantik, dem ewigen Warten, der Einsamkeit? Der Traum von der großen Liebe, die alle Widrigkeiten überdauert, habe sich überholt, so die Familienforscherin Ruth Limmer von der Universität Bamberg, auch wenn in fast jeder Umfrage die Mehrheit der Bevölkerung nach wie vor daran glaubt. Vielleicht sind Doppel-Singles einfach nur pragmatisch.

»Eigentlich ist unsere Beziehung genauso wie vorher, nur der Sex fehlt«, sagt ein anderes Paar, Sandra und Michael. Die Streite sind die gleichen, da sind sie sich einig. Er ist um den Block gegangen, wenn es laut wurde, danach haben sie sich umarmt. Die Angst vor dem Alleinsein war zu groß. Als sie vor drei Jahren einen anderen Mann kennen lernte, zu ihm ziehen wollte, saß sie weinend auf den Umzugskartons, »ich dachte: Soll ich jetzt mein ganzes Leben aufgeben?«. Nach einem halben Jahr packte sie die Kartons wieder aus, trennte sich von dem neuen Freund und blieb; getrennt zu zweit.

»Wir hatten ja schon zuvor wie in einer WG gewohnt, obwohl wir uns noch als Paar gesehen haben«, sagt Sandra. Michael saß am Feierabend vor dem Fernseher, Sandra in ihrem Zimmer an der Doktorarbeit. »Wir konnten nicht mal gemeinsam ins Kino gehen, weil wir bis dahin zerstritten waren.« – »Er ist dann immer drei Schritte vor mir gelaufen.« – »Du warst ja nie pünktlich.«

»Streiten konnten wir schon immer gut.« Erst kürzlich wieder, Michael hatte Sandra auf einer Party als seine Mitbewohnerin vorgestellt, als wären sie nie ein Paar gewesen. Aber oft war ihnen ihr Zustand eben unklar. Immer wieder gab es Affären, neue Beziehungen. »Als meine letzte Freundin wollte, dass ich hier ausziehe, habe ich mich von ihr getrennt.« Allein wohnen, das will er nicht. Da ist diese Ahnung, was er verliert, aber auch die Gewissheit, dass sie nie mehr ein Paar sein werden; sie haben es immer wieder mal versucht.

Manchmal frühstücken sie jetzt zu dritt mit Sandras neuem Freund Thomas. Monatelang sprachen Michael und Thomas nicht, wenn sie sich auf dem Flur trafen, bis Thomas hier einzog, weil seine Eigentumswohnung renoviert wurde. Sandra und Michael lachen, schon verrückt, was alles zur Gewohnheit werden kann. Und: Wenn Thomas wüsste, was sie sich alles erzählen. Das ist ihre neue Gemeinsamkeit, wie Singles reden sie über ihre anderen Beziehungen, sonst ist alles getrennt, die Kasse, das Essen, die Zimmer.

Viele Partnerschaften hätten mehr mit einer guten Geschäftsbeziehung zu tun als mit Liebe, sagt der Paartherapeut Rüdiger Wacker. Soeben hatte er wieder so einen Fall in seiner Praxis. »Wir sind eine gut funktionierende WG«, sagte das Paar. »Diese Beziehung fühlte sich wie Watte an.« Aber er kann den Entscheidungsprozess, zu welchem Preis man zusammenbleibt, nur begleiten, indem er Fragen stellt: Was fehlt? Was müsste anders sein? Gegen die »Beziehungslosigkeit in der Beziehung« rät der Paartherapeut Michael Lukas Moeller in seinen Büchern zu Gesprächen nach festgelegten Regeln und Zeiten. Er entwickelte die »Big Nine« für ein besseres Paarleben: »Zeit zu zweit reservieren« beispielsweise, »Anerkennen der doppelten Wirklichkeit«. Oder: »Wesentlich sprechen«, was etwa so viel heißt wie: Sage lieber »ich« statt »man«. In seiner Studie Paarlauf – Wie einsam ist die Zweisamkeit? hat der Psychologe Klaus Heer einen verbalen Giftschrank der Doppel-Singles erstellt: »Ich weiß genau, was du denkst« oder »Ich kenne dich zu gut«.

Die Paarforschung ist inzwischen zu einem der größten Felder der Psychologie angewachsen. John Gottman von der Universität in Seattle, einer der renommiertesten Beziehungsforscher weltweit, hat fast schon mathematische Formeln der Gefühlsgeometrie ausgearbeitet, um zu erkennen, wann er es mit einer Beziehung oder mit nur noch zusammenlebenden Singles zu tun hat. Er misst die Häufigkeit von Wut, Jammern, Abwenden oder Dominanz im Gegensatz zu Humor, Zuwendung, Freude oder Interesse. Eine seiner Paar-Konstanten lautet: fünf zu eins. Jede Nachlässigkeit, jeder Streit muss mit fünf positiven Erlebnissen ausgeglichen werden. Für Trennungen gibt es allerdings keine Regeln, bei Doppel-Singles scheinen die Grenzen fließend.

Vorwürfe, Egoismus, falsche Erwartungen, die immer gleichen Streitigkeiten – Beziehungen schlagen anscheinend auf jeweils ähnliche Art fehl. Gewöhnung, Angst vor Verlust und Einsamkeit halten Menschen in einem schwebenden Doppel-Single-Dasein. Aber warum man sich verliebt, was Anziehung ausmacht, oft sind es völlig irrationale Gründe. Das zeigt das so genannte Brücken-Experiment des New Yorker Sozialpsychologen Art Aron. Demnach ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich Frauen und Männer in einer riskanten Situation, etwa auf einer wackeligen Brücke, plötzlich attraktiv finden, weitaus höher als auf festem Grund. Ein Paradox der Liebe also: Gewohnheit hält zusammen und treibt uns auseinander. Bei allen Formeln und Empirie, die Geschichten gescheiterter Zweisamkeit sind doch immer anders und meist gibt es davon auch noch zwei unterschiedliche Varianten. Oft führt das offene Ende einer Beziehung zu bizarren Situationen, folgender Fall ist in dieser kleinen Feldforschung keineswegs selten.

Sie leben zusammen, zehn Jahre, teilen eine Drei-Zimmer-Wohnung in München. »Seit vier Jahren sind wir sexuell getrennt«, sagt Linda, es soll sachlich klingen. Denn eigentlich fühlt sie sich in einem ständigen Zwischenzustand. Andere, selbst Freunde, meinen, sie seien ein schönes Paar, beide 37, so harmonisch, sie passen gut zusammen, selbst ihre Gesten ähneln sich wie bei Synchronschwimmern. Ihre Mutter dachte das noch bis vor ein paar Tagen, dann erfuhr sie von dem Interview für diese Geschichte.

Linda erzählt, wie sie ihn kennen lernte, beide machten gerade Abitur auf dem zweiten Bildungsweg, sie wollte Lehrerin werden, er studierte Soziologie. Für sie war es die große Liebe. »Ich habe um ihn gekämpft, aber er wollte sich frei fühlen.« So verging die Zeit. Wenn sie so tat, als sei sie nicht verliebt, dann umarmte, küsste er sie. Aber eigentlich träumte sie von einer gemeinsamen Zukunft, von Kindern, und wünschte sich, dass er mal öfter zu ihren Eltern mitkommt. »Heute weiß ich, ich bin nicht seine Traumfrau, vielleicht ist es so einfach.«

Er konnte nicht mir ihr und nicht ohne sie. Das ist immer noch so. Sie seien wie in einer eigenen, nur ihrer beider Realität gefangen. Er sagt, manchmal habe er sich so gefühlt, »als sei meine ganze Persönlichkeit herausgeschwemmt und durch ihre ersetzt«. Sie hatte einen Plan, er wusste nicht genau, liebt er sie oder nicht, andere Frauen interessierten ihn einfach. Aber eine neue Beziehung hatte er nie, ihre Zweisamkeit, das weiß er, hält ihn davon ab. »Wir sind inzwischen dicke Freunde«, sagt er und doch redet er immer wieder mal – vielleicht auch aus Gewohnheit, weil es einfacher ist – von »meiner Freundin«.

Eigentlich wäre es für sie die perfekte Beziehung, »wenn die Hormone nicht wären«, sagt Linda. Seit einem halben Jahr hat sie einen neuen Freund, die beiden Männer verstehen sich, meint sie. Nur die Durchgangszimmer seien ein Problem, »und lauter Sex geht nicht«. Sonst ist vieles wie früher, »manchmal schlafe ich auch in seinem Bett, sitze an seinem Computer. Das ist alles noch eins wie das Bad, der Kühlschrank«. Ihre einzige Angst ist, dass sie sich niemals mit einem anderen Mann so verstehen könnte wie mit ihm, eigentlich müsste sie sich entscheiden.

Früher sei es einfacher gewesen, sagt er. Da gab es die Ehe und die galt es zu bewahren. Aber jetzt sind die Grenzen fließend – was ist Liebe, Freundschaft, wer ist dein Lebenspartner? Und doch gilt man als Paar nach außen als perfekt, sagt er, auch wenn man sich eigentlich einsam fühlt.