Mit Marcel Dzama zusammenzuarbeiten empfand ich immer als großes Privileg, während der Zeit, in der ich für die Galerie David Zwirner in New York arbeitete. Die denkwürdigste Erfahrung mit ihm machte ich allerdings lange, bevor wir uns ernsthaft über seine Arbeit zu unterhalten begannen.
Im April 2006 ging ich mit ein paar Freunden ins Museum of Modern Art. An jenem Frühlingsabend hatte Dzamas Film The Lotus Eaters Premiere. The Lotus Eaters ist ein Begriff aus Homers Odyssee. Er bezieht sich auf das mythische Inselvolk der Lotophagen, der Lotusesser, deren Lieblingsspeise bei jedem, der sie isst, einen Zustand des glücklichen Vergessens hervorruft. Der Film zeigt das Porträt eines Künstlers – übrigens gespielt von Dzamas Vater – der von seiner Vergangenheit verfolgt und seinen eigenen Kreaturen verzehrt wird. Als ich den Film ansah, musste ich weinen. Nicht, weil er eine traurige Geschichte erzählt. Der Film hat ein gutes Ende und der Held findet am Schluss genau das, was er sucht: seine verstorbene Frau. Ich musste weinen, weil ich zum ersten Mal begriffen habe, wie unglaublich real, wie wirklich diese Welt Dzamas ist, wie voll der Kopf des Künstlers mit all diesen Amok laufenden Gestalten sein muss; Gestalten, die er auf Papier bannen muss, damit er sie unter Kontrolle bringen kann.
Mir wurde klar, wie großartig es ist, dass ein so scheuer Mensch bereit ist, so viel von seiner Bilderwelt mit seinem Publikum zu teilen. Als Betrachter gerät man in Gefahr, in der Traumwelt Dzamas zu versinken – wie sein Protagonist dies tut –, aber Dzama holt seine Zuschauer immer wieder zurück. Er bewahrt uns davor, von seiner Vorstellungskraft absorbiert zu werden.
Bekannt geworden ist Dzama mit seinen Arbeiten auf Papier – wunderbar merkwürdige Kompositionen mit Tusche und Wasserfarben, auf denen sich eine ganze Truppe menschlicher, tierischer und hybrider Wesen tummelt. Mit seinen Braun-, Grau-, Grün- und Rottönen hat der Künstler eine wiedererkennbare Bildsprache entwickelt, mit der er, oft auf Elemente des Gewalttätigen, Grotesken und Absurden zurückgreifend, das menschliche Tun erforscht. Seine unheimliche Bildwelt scheint aus dem Reich der Träume zu kommen: Sie unterläuft die Erwartungen, die man im Wachzustand hat, ist irrational und bleibt doch logisch.
Mit seinen neuesten dreidimensionalen Werken, den Dioramen, einer Art stehender Schaukästen, die er Anfang 2008 erstmals bei David Zwirner gezeigt hat, lädt er uns sogar ein, seine spezielle Welt zu betreten. Dort sehen wir zunächst nur tanzende Bären, Cowboys mit gezückten Revolvern und sprechende Bäume, trotzdem ist Dzamas Welt nicht kindlich oder unschuldig.
Es ist eine Welt voller merkwürdiger Tricks, makabrem Humor, politischer Kritik und bizarrer Fetische, alles Anspielungen auf den historischen und kunsthistorischen Kosmos des Künstlers. Die Arbeiten, die Dzama exklusiv für diese Ausgabe des SZ-Magazins angefertigt hat, illustrieren das. Die Serie von Zeichnungen erzählt die Geschichte einer Welt im ständigen Fluss, heimgesucht von Kriegen – es ist die Welt, in der wir leben.
Marcel Dzama zeigt Szenen aus einer 24-Stunden-Nachrichtensendung, die unsere mediengesättigten Gehirne berieselt. Er zeigt uns die Särge anonymer Soldaten, die aus dem Krieg zurückkommen, und einen Mann im Rollstuhl, gelähmt durch ein Unglück, der von einem Hurrikan herumgewirbelt wird.
Wir werden konfrontiert mit der aufgebauschten Bedrohung durch den Terrorismus in Gestalt eines immer wieder auftauchenden maskierten Mannes; verstümmelte Körper hängen von Bäumen, ein Spaßmacher führt einen Trick vor, eine Frau mit Fernglas versucht vergeblich zu erkennen, was die Zukunft bringt. Was sie am Ende sieht, ist ein Diktator, der unsicher auf ein paar Kartons stehend Reden schwingt und von Pinocchio mit Lügen gefüttert wird.
Dzama zeigt uns ein Reich, das jeden Moment auseinanderfallen wird. Er hält uns den Spiegel vor und will, dass wir uns der kollektiven Vergangenheit und Gegenwart ergeben. Es ist eine entschieden nicht-monumentale Kunst, die doch die größte Frage stellt: Sind die kommenden Generationen angesichts der Geschichte und ihrer unvermeidlichen Wiederholungen dazu verdammt, stets aufs Neue die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen?
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Cameron Shaw lebt als Autorin in New York. Ihr Essay "even the Ghost of the Past: Dzama's Odeum of Imagination" ist in dem Buch "Marcel Dzama: Even the Ghost of the Past" erschienen (Steidl/David Zwirner).