Am Bodensee sind mein Sohn und ich vor Kurzem in eine typische »Mensch-Wildtier-Interaktion« getreten. So nennen Ornithologen das, wenn sie Fachaufsätze über das Vogelfüttern schreiben: Wir zwei verfütterten eine halbe Breze an eine Gruppe Spatzen, die in den Gebüschen vor dem Konstanzer Bahnhof hockten. Vater und Sohn war es ein Vergnügen, den Spatzen ein Fest. Erst als alle Brezenkrümel vertilgt waren, setzte das schlechte Gewissen ein. Denn Ornithologen verwenden in ihren Aufsätzen nicht nur sperrige Formulierungen, sie mahnen vor allem, Enten, Spatzen und andere Vögel nicht mit Brot zu füttern. Für die Tiere sei das reinstes Junkfood, warnt zum Beispiel der bayerische Landesbund für Vogelschutz. »Wir raten davon ab, Brot zu füttern«, sagt auch Peter Berthold vom Max-Planck-Institut für Ornithologie, »mit gesunder Ernährung hat das nichts zu tun.«
Aber bitte, die Spatzen haben sich uns doch aufgedrängt! Enten, Blässhühner, Schwäne genauso: Alle fordern aufdringlich ihren Anteil ein, wenn man mit einer Semmel am Seeufer sitzt. Am gierigsten sind die Spatzen. Früher pickten sie Körner auf, die beim Dreschen auf dem Bauernhof übrig blieben. Doch durch den maschinellen Fortschritt der Landwirtschaft finden Vögel immer weniger Futter. Stattdessen fressen sie, was Menschen so fallen lassen. Das schlechte Nahrungsangebot in den Städten setzt den Tieren zu. »Bahnhöfe sind zuverlässige Futterplätze für Spatzen, aber die Vögel dort sind so etwas wie Hungermutanten«, sagt Max-Planck-Ornithologe Peter Berthold, der auch das Buch Vögel füttern, aber richtig geschrieben hat, »die Tiere bekommen zu wenig Kohlenhydrate und Eiweiß.«
Auch das Fachmagazin Journal of Avian Biology merkt an, es sei arg ungewiss, wie der Organismus von Vögeln industriell gefertigte Lebensmittel verträgt. Einiges spricht dafür, dass die Reste menschlicher Ernährung nicht die physiologischen Bedürfnisse der Vögel decken. Werden zum Beispiel australische Pfeifenvögel mit Fleischresten gefüttert, haben sie oft einen erhöhten Cholesterinspiegel. Ein weniger exotisches Problem ist das Salz, das in Brot- und Brezenkrümeln enthalten ist. Weil Vogelkörper nur ein paar Gramm wiegen, kann schon wenig Salz den Stoffwechsel der Tiere aus dem Lot werfen. Das Gleiche gilt für andere Gewürze sowie Aroma-, Farb- und Konservierungsstoffe. Und wir wissen es ja alle – auch wenn wir es eher nicht zugeben wollen: Oft sind die Brotstücke, die wir verfüttern, auch noch angeschimmelt. Da wird jeder Experte streng: Brotreste und andere Tischabfälle gehören in die Mülltonne, nicht in den Ententeich.
Die meisten Ornithologen plädieren trotzdem dafür, Vögeln das ganze Jahr über Futter anzubieten – allerdings a) spezielles Futter an b) speziellen Futterstellen. Wer sich in die Empfehlungen einliest, betritt die Welt eines verwirrend vielfältigen Hobbys. Meister im Vogelfüttern sind die Briten: 20 Millionen Haushalte bieten Vögeln dort jährlich 15 000 Tonnen Erdnüsse und 20 000 Tonnen Sämereien an. Auch in Deutschland diskutiert eine wachsende Zahl von Vogelfreunden das Für und Wider transparenter Silos aus UV-beständigem Polycarbonat und anderer Fütterungsvorrichtungen für den Garten. Das Angebot an artspezifisch zugeschnittenem Futter explodiert: Mischungen aus Samen sowie getrockneten Früchten und Mehlwürmern für Rotkehlchen; Erdnüsse für Blaumeisen; Nigersamen – die protein- und fettreichen Körner des Ramtillkrauts, das in Afrika und Asien angebaut wird – sind ein Fest für Stieglitze und Zeisige. Wer unbedingt Spatzen am Bahnhof füttern wolle, so die Fachwelt, der soll einen Beutel Futtermischung mitbringen: Sonnenblumenkerne, geschroteter Mais, Haferflocken, geschälter Haferbruch, Hirse. (Es ist paradox: Während Vögel auf den Flächen der industriellen Landwirtschaft kaum mehr Samen finden, werden auf anderen Feldern Pflanzen angebaut, die als Vogelfutter im Handel landen.)
Wenn man zusammen mit seinem zweijährigen Sohn die Gier einer Spatzenbande weckt, führt man allerdings nur selten die Spezialmischung aus dem Vogelfreunde-Fachhandel mit sich. Weil es so nett ist, die kleinen Tiere zu füttern, verhält man sich eben doch so wie der Großteil aller Menschen. Fast immer ist Brot im Spiel, wie das Journal of Avian Biology schreibt. Auf der ganzen Welt bekommen Vögel Toastbrot, Baguette, Tortilla und Brezen.
Aber vor allem Wasservögel – Enten, Blässhühner und Schwäne – sollte man möglichst gar nicht mit Brot füttern. Die finden auch im Winter genug Futter. Hinzu kommt: Teiche und Tümpel können durch Überfütterung umkippen. Das Schauspiel im Stadtpark läuft weltweit nach dem gleichen Muster ab, wie Forscher an australischen Teichen herausgefunden haben: Bei jeder beobachteten Fütterung gaben Spaziergänger den Enten im Schnitt je 4,9 Scheiben Brot. Täglich landeten so etwa viereinhalb Laibe Brot in jedem der zehn beobachteten Teiche. Aufgegessen wurde das Brot in keinem Teich: Im Gewässer mit den sattesten Enten blieben 53,6 Prozent der Brotstückchen übrig, im Teich mit den hungrigsten Vögeln waren es immer noch 11,4 Prozent.
Die verschmähten Brotreste sinken auf den Grund und faulen. Wenn der Teich klein ist und keinen ordentlichen Frischwasserzulauf hat, ist das Wasser bald überdüngt. Die Algen blühen, das Wasser müffelt, die vollgefressenen Wasservögel kacken auch noch in die Brühe. Und genau deshalb ist das Entenfüttern so oft verboten.
Mein Sohn und ich haben übrigens am nächsten Tag, da waren wir schon in Lindau, das Werben der Enten im Hafen ignoriert. Und die Tauben haben wir verscheucht. Für diese Plagen bieten ja nicht mal die Webshops der Profi-Vogelfütterer besondere Mischungen an.
Foto: Ricardo Cases