Ali Dodd und Amber Scorah haben wenig gemeinsam: Dodd ist eine blonde Physiotherapeutin aus Oklahoma, verheiratet mit ihrer Schulliebe, sie macht gegen Abtreibung mobil und wählt Trumps Partei. Amber Scorah ist eine linke Verlagsangestellte, lebt unverheiratet in Brooklyn, und sie stimmte für Hillary Clinton. Unter normalen Umständen wären sich die beiden wohl kaum jemals begegnet, aber nun kämpfen sie gemeinsam für etwas, das Leben retten könnte. Genauer: Das Leben ihrer Kinder hätte retten können. Beide verloren ihre wenige Monate alten Söhne an deren ersten Tagen in der Kita.
Dazu muss man wissen: Amerika ist die einzige westliche Industrie-Nation, die kein Recht auf Elternurlaub kennt. Von den 193 Ländern der Vereinten Nationen bieten 185 gesetzliche Regelungen, die Müttern rund um die Geburt ihrer Kinder Urlaub garantieren, der vom Arbeitgeber voll bezahlt werden muss; in vielen weiteren Ländern, zum Beispiel Deutschland, kommen weitere staatliche Leistungen hinzu. Die Ausnahmen: Papua Neu-Guinea, Surinam, einige südpazifische Inseln – und eben die Vereinigten Staaten. Laut dem Center for Law and Social Policy bekommen 87 Prozent der amerikanischen Eltern keinen bezahlten Urlaub. Einige amerikanische Firmen wie Google, Amazon und Facebook machen Werbung damit, dass sie freiwillig bezahlte Elternzeit für bis zu 20 Wochen anbieten – weil sie herausfanden, dass dies die Kündigungsrate von jungen Müttern de facto halbiert. Für die allermeisten Mütter und Väter in den Staaten aber gilt: Sie dürfen – je nach Größe des Unternehmens, für das sie arbeiten – höchstens 30 Tage bis 12 Wochen Urlaub nehmen, natürlich unbezahlt. Von Mutterschutz, drei Jahren Kündigungsschutz oder gar einem staatlichen Elterngeld wie in Deutschland können Amerikaner nur träumen. Wenn sie mehr Zeit mit ihrem Kind verbringen wollen, müssen sie kündigen – und damit nicht nur den finanziellen Verlust, sondern in den meisten Fällen auch den Verlust der Krankenversicherung für sich und ihr Kind hinnehmen, denn in Amerika ist die Krankenversicherung häufig an den Arbeitgeber gekoppelt.
Das führt zu Situationen wie der von Ali Dodd und Amber Scorah. Beide wären gerne länger mit ihren Wunsch-Babys zu Hause geblieben; Ali Dodd und ihr Mann Derek hatten jahrelang gespart, um sich das Baby und drei Monate unbezahlte Mutterschaftszeit leisten zu können. »Keiner von uns wollte unsere Söhne schon so früh in die Kita geben, als sie erst einige Wochen alt waren. Aber wir hatten nicht den Luxus, uns das auszusuchen«, schreiben sie in ihrer Petition für eine vernünftige Elternzeitregelung. »Unsere Kinder waren durch die Krankenversicherung unserer Arbeitgeber mitversichert, und wie die meisten Amerikaner konnten wir es uns nicht leisten, auf das Einkommen zu verzichten und gleichzeitig unsere eigene Krankenversicherung zu bezahlen.«
Diese Situation führt in vielen Familien zu der herzzerreissenden Situation, dass Mütter ihre einige Wochen alten Babys, die sie noch stillen, bei Tagesmüttern abgeben. Und in gar nicht wenigen Fällen gefährdet es das Wohl ihrer Kinder.
Ali Dodd, 33, brachte ihren 11 Wochen alten Sohn Shepard am 6. April 2015 zu einer Tagesmutter in Oklahoma. Nur Stunden später rief die Tagesmutter sie panisch auf dem Handy an: Shepard atmete nicht mehr. Später rekonstruierte Dodd mit Hilfe der Polizei, dass die Tagesmutter den Kleinen für ein Nickerchen unangeschnallt in einem Baby-Autositz geparkt hatte, ohne zwei Stunden lang weiter nach ihm zu sehen. Sein Kopf war ihm dabei auf die Brust gesackt und das Baby – noch zu klein, um selbst sein Köpfchen zu heben – erstickte. »Vor diesem schrecklichen Tag hatte ich keine Ahnung, dass das Sterberisiko von Babys bei Tagesmüttern sieben Mal höher ist als zu Hause,« sagt Dodd, die nun auf ihrer Facebook-Seite über die Risiken aufklärt. »Ich wusste nicht, dass die Betreuer nicht darin ausgebildet sein müssen, die sichersten Schlafstellungen für Babys zu kennen. Ich hatte keine Ahnung, dass ich geradewegs in meinen schlimmsten Albtraum lief. Wenn dein Kind stirbt, wünschst du dir nur noch, gleich mit zu sterben.«
Drei Monate später, im Juli, brachte Amber Scorah ihren 117 Tage jungen Karl zum ersten Mal zu einer Tagesmutter in der Nähe ihres Büros in Manhattan. Sie schätzte sich glücklich, weil ihr Verlag zu den wenigen Arbeitgebern gehört, die ihr drei Monate Mutterschaftszeit bezahlte. Auch Scorah wäre gerne noch länger zuhause geblieben: »Jeder Tag, den wir zusammen verbrachten, bedeutete uns soviel, ich konnte sehen, wie er selbstbewusster wurde und neugierig daran ging, seine Umgebung zu erforschen.« Sie versuchte, ihren Arbeitgeber zu überreden, ihr zwei Monate mehr Zeit zu geben, ohne Bezahlung, aber »die Personalabteilung sagte mir, das ginge auf keinen Fall. Entweder ich komme zurück oder ich müsste kündigen.« Sie dachte ernsthaft darüber nach, ihren Job aufzugeben, obwohl ihr Lebensgefährte als Freiberufler nicht genügend für beide verdiente, »aber den Ausschlag gab die Krankenversicherung, bei der auch mein Sohn mitversichert war. Mit dem Job hätte ich auch die Versicherung verloren, und was, wenn Karl ernsthaft krank würde?« Die Tagesmutter versicherte ihr, sie würde sich erstklassig um den Kleinen kümmern. »Ich habe mir eingeredet, als Einzelkind würde es ihm vielleicht sogar gut tun, mit den anderen Kindern zu spielen. Er war ja immerhin schon 15 Wochen alt, konnte den Kopf heben und war noch nie krank.« Aber als Scorah in der Mittagspause zurückkehrte, um ihn zu stillen, war die Tagesmutter gerade dabei, an ihrem Sohn Wiederbelebungsmaßnahmen zu versuchen. Bis heute weiß sie nicht, warum das kerngesunde Baby starb.
»Wir sind nicht die einzigen, die diese Qual erleben», schreiben Dodd und Scorah in ihrer Petition. »Gerade erst haben wir von einem drei Monate alten Mädchen in Pennsylvania gehört, das an seinem ersten Tag bei einer Tagesmutter starb – sie war von ihrer Mutter zum ersten Mal mehr als 90 Minuten getrennt.«
Offiziell lautete die Diagnose in all diesen Fällen »plötzlicher Kindstod«; niemand wurde bestraft. Es ist nicht nachzuweisen, dass die Kinder noch leben würden, wenn sie bei ihren Eltern geblieben wären. Aber Ali Dodd ist sich sicher, sie hätte ihr Baby nicht halb aufrecht in einen Kindersitz gesteckt und dann stundenlang nicht mehr nach ihm gesehen. Erst später erfuhr sie, dass die Tagesmutter bereits zuvor eine Verwarnung wegen »unsicherer Schlaf-Praktiken« kassiert hatte. Sie ist überzeugt, »dass der Tod meines Babys hundertprozentig hätte verhindert werden können«. Und Amber Scorah hat beobachtet, »dass die Tagesmutter nicht einmal die Wiederbelebungsversuche korrekt ausführte.«
Amerika hat die höchste Säuglingssterberate in der westlichen Welt. Für diese vernichtende Tatsache gibt es mehrere Ursachen, etwa, dass sich einkommensschwache Eltern oft keine gute Gesundheitsversorgung leisten können. Aber sie hängt auch direkt mit der fehlenden Elternzeit zusammen. Eine Studie bei der McGill Universität und der Universität von Kalifornien in Los Angeles stellte fest: Mit jedem Monat, den eine Mutter länger Mutterschaftsurlaub bekommt, sinkt die Sterblichkeitsrate um 13 Prozent.
»Natürlich ist Elternzeit in den wenigsten Fällen eine Sache von Leben und Tod«, meint Amber Scorah, »aber es lässt sich nachweisen, dass die fehlende Elternzeit negative Folgen für die Babys hat.« Babys von Eltern, die keinen Elternurlaub bekommen, werden seltener gestillt, seltener zum Arzt gebracht, haben langfristig mehr Verhaltensstörungen und erzielen schlechtere Ergebnisse bei kognitiven Tests.
»Die Grundlagen für die körperlichen, emotionalen, sozialen und intellektuellen Fähigkeiten werden in den ersten Lebensmonaten gelegt«, sagt Ali Dodd, »Jedes Baby wäre behüteter, gesünder und hätte einen besseren Start ins Leben, wenn es in den ersten Monaten mehr Zeit mit den Eltern verbringen dürfte.«
Dennoch hat jede vierte amerikanische Mutter keine andere Wahl, als innerhalb von zwei Wochen nach der Geburt wieder an den Arbeitsplatz zurückzukehren. »In einem der reichsten Länder der Welt sollten weinende Mütter ihre Frühchen nicht auf der Intensivstation zurück lassen müssen, um an ihren Schreibtisch zurück zu kehren. Wir sollten Babys nicht aus den Armen ihrer Mütter reißen, bevor sie ihren Kopf selbst aufrecht halten können«, argumentieren Dodd und Scorah.
»Natürlich hätte ich mir nicht in meinen wildesten Albträumen ausgemalt, dass die Kinderkrippe Karls Tod bedeutet«, schreibt Scorah in einem emotionalen Essay in der New York Times. »Hätte ich das geahnt, hätte ich lieber mit ihm auf dem Rücken leere Flaschen auf den Straßen von New York gesammelt. Sollen Eltern wirklich mit ihren Säuglingen Roulette spielen müssen? Sich darauf verlassen, dass ihr wenige Wochen altes Baby in der Obhut eines kompetenten, aufmerksamen Betreuers landet? 47 Prozent aller Arbeitnehmer sind Frauen. Wenn wir sie wirklich wertschätzen, sähen die Dinge anders aus.«
Die allermeisten Amerikaner sprechen sich in Umfragen für bezahlte Elternzeit aus, und einige fortschrittliche Bundesstaaten wie New York und Kalifornien haben erste Vorstufen dazu inzwischen zögernd eingeführt. Andererseits haben bis heute etwa 40 Prozent gar keinen Anspruch auf Elternzeit, nicht einmal unbezahlte – vielleicht, weil sie noch nicht lange genug für ihren Arbeitgeber tätig sind oder ihr Arbeitgeber so wenige Mitarbeiter hat, dass er von den gesetzlichen Regelungen befreit ist. Unzählige Studien zeigen, dass Elternzeit gut für alle ist – für die Geburtenrate, für die Babys, für die Eltern, für die Kündigungsrate, für die Firmen, für die Wirtschaft. Auf Stimmenfang im Wahlkampf versprach sogar Donald Trump bezahlten Elternurlaub auf Bundesebene, und zwar auf Drängen seiner Tochter Ivanka, die selbst dreifache Mutter ist. »Daddy, Daddy, das musst du machen«, soll ihn seine Tochter gedrängt haben, als bettle sie um eine neue Barbie-Puppe. Ivanka Trump betont, sie sei selbst schon eine Woche nach der Geburt wieder ins Büro gegangen, verdeutlicht dabei aber unfreiwillig nur, wie prima das für Millionäre funktioniert. Sie lässt sich gerne mit ihren Kindern am Schreibtisch ablichten – das blonde Haar immer so perfekt gestylt, das Etuikleid so perfekt unbespuckt, das blütenweiße Sofa so fleckenlos, während Mama mit Baby im Arm und Blick auf den Central Park ein wichtiges Schriftstück unterzeichnet, dass ganz klar eine kleine Armee von Stylisten, Putzfrauen und Kindermädchen hinter den Kulissen am Werk war, um dieses Wunderwerk hinzukriegen.
Diese Bilderbuch-Bilder bringen weniger gut betuchte Mütter erst recht in Rage: »So sehen keine normalen Frauen aus, die kleine Kinder haben und gleichzeitig arbeiten,« schimpfen amerikanische Mütter und posten unter Ivankas Hashtag #WomenWhoWork Fotos von sich mit zerzausten Haaren, bespuckten Blusen und ruinierten Küchentresen.
Seit er Präsident ist, hat Trump zwar eine Menge Verordnungen angestoßen, die Familien schaden – allen voran die angekündigte Abschaffung der allgemeinen Krankenversicherung –, aber von Elternzeit ist seither keine Rede mehr. Wie das eben so ist mit Wahlkampfversprechen, die Mexiko-Mauer und die nukleare Aufrüstung sind nun wichtiger. Überhaupt war das Geschrei groß, als rauskam, dass Ivankas 14 eigene Mitarbeiter zwar Elternurlaub bekommen, aber das Recht darauf schon nicht mehr in der Design-Firma gilt, die ihre schicken Klamotten entwirft. Anders als Ivankas perfekt gestellte Fotos hatte der Gesetzes-Entwurf einen gravierenden Makel, der größer ist als jeder Babybrei-Fleck auf der Businessbluse: Er sollte nur für verheiratete leibliche Mütter gelten – nicht für ledige Mütter, nicht für Adoptiveltern, nicht für gleichgeschlechtliche Paare und schon gar nicht für Väter.
Donald Trump ist schließlich auch der Unternehmer, der Schwangerschaft als »schlecht fürs Business« bezeichnet hat und damit prahlte, er habe zwar fünf Kinder gezeugt, aber noch nie im Leben eine Windel gewechselt. Respektable Männer, so tönte Trump, wechseln keine Windeln und schieben keine Kinderwägen.
Die werden das aber ganz schnell lernen müssen: Für den Internationalen Frauentag am 8. März hatten die Amerikanerinnen einen kompletten Generalstreik der Frauen ausgerufen.
Foto: Getty Images/Thanasis Zovoilis