Nun heißt es überall, wir sollten eine »offene Haltung« einnehmen, selbst die Washington Post bittet darum, Trump »eine Chance zu geben«; die Demokratie werde schon stark genug sein, einen wie Trump auszuhalten. Barack Obama predigte gerade erst wieder in Griechenland: »Die amerikanische Demokratie ist größer als jeder Einzelne.« Aber ist sie das? Wie großartig ist die amerikanische Demokratie? Wie gut funktioniert sie? Und was macht eine Demokratie aus?
Zunächst einmal, dass alle gleichberechtigt wählen dürfen. Dass die Wählergruppen entsprechend proportional in der Regierung vertreten sind. Dass die Gewaltenteilung funktioniert. Dass man sich mit Geld keine Gesetze erkaufen kann. Dass Bürger mit ihren Anliegen bei ihren gewählten Vertretern Gehör finden. Und, wie Heribert Prantl in seinem Kommentar zu Obamas Rede in Griechenland betonte: »Demokratie ist mehr als ein Urnengang. Demokratie ist auch eine Wertegemeinschaft - eine, die ihre Mitglieder achtet und schützt.«
Also, Amerika, wie hältst du's mit der Demokratie? Nach allem, was ich in diesem Jahr und bei dieser Wahl in Amerika beobachtet habe, hat sie zahlreiche Fehler und Schwächen. Hier sind 13 große Risse, die mit bloßem Auge zu erkennen sind:
1. Schlangen vor den Wahllokalen. Schon am Sonntag vor den Wahlen sah ich Bilder von langen Schlangen. Eine halbe Meile stauten sich die Wahlwilligen um den Block im kalifornischen Culver City, mit Wartezeiten von drei bis vier Stunden. Kein Einzelfall: Jeder zehnte Wähler musste länger als dreißig Minuten warten. Wissen Sie, wer keine Zeit hat, stundenlang auf Demokratie zu warten? Genau, die einkommensschwachen Familien, die ohnehin schon Kinder und drei Jobs jonglieren.
2. Kein Wunder, dass die Wahlbeteiligung so miserabel ist. 100 Millionen wahlberechtige Amerikaner haben nicht gewählt. In Deutschland macht sich schon Panik breit, wenn die Wahlbeteiligung mal auf gut 70 Prozent sinkt. In Amerika dagegen bleibt fast die Hälfte der Wähler zuhause. 43 Prozent gehen nicht wählen. Das hat nicht nur mit Politikmüdigkeit zu tun.
3. Es ist verdammt umständlich, mühsam und bürokratisch, in Amerika zu wählen. Erst muss man sich extra als Demokrat, Republikaner oder Unabhängiger registrieren lassen (mit Fristen, die in jedem Bundesland anders sind), und zwar persönlich, damit man überhaupt wählen darf. Davor schrecken viele zurück, unter anderem, weil die Wahlregistrierung auch die Methode ist, über die sich die Gerichte die Besetzung für die ungeliebte Jury-Pflicht suchen.
4. Wenn alle Stimmen ausgezählt sind, wird Hillary Clinton vermutlich zwei Millionen Stimmen mehr bekommen haben als Donald Trump. Aber Präsident wird Trump. Warum? Weil der Präsident nicht direkt gewählt wird, sondern von Wahlleuten, dem sogenannten Electoral College. Dieses Gremium, das sich die Gründungsväter vor 229 Jahren als Zugeständnis an die Sklavenhalter ausgedacht haben, bestimmt bis heute den Wahlausgang. Die vergangene Wahl war die fünfte in der amerikanischen Geschichte, bei der der Politiker mit den meisten Stimmen nicht gewann. Vor Clinton geschah dasselbe zuletzt Al Gore. Wenn Sie sich zurück erinnern an das Drama von 2000: Mehrere unabhängige Organisationen kamen zu dem Schluss, Gore hätte die Wahl gewonnen, wenn der Oberste Gerichtshof die Stimmenauszählung in Florida nicht gestoppt hätte. »Die Präsidentschaft ist das einzige Amt, für das man mehr Stimmen bekommen und trotzdem verlieren kann«, sagt die demokratische Senatorin Barbara Boxer und schlug gerade im Senat vor, das Wahlkollegium abzuschaffen: »Das Wahlkollegium ist ein überholtes, undemokratisches System, das unsere moderne Gesellschaft nicht widerspiegelt, und es muss sofort geändert werden. Allen Amerikanern sollte garantiert werden, dass ihre Stimmen zählen. Eine Person, eine Stimme!« Vier Millionen Amerikaner haben inzwischen eine Petition unterzeichnet, das Kollegium abzuschaffen. Sogar Trump hatte 2012 getweeted, das Wahlkolleg sei »ein Desaster für die Demokratie«.
5. Stimmen zählen nicht gleich viel. 50 Prozent der Amerikaner leben in einem Bundesstaat, der eindeutig republikanisch oder demokratisch ist. Die Wahl ist in mehr als der Hälfte der Bundesstaaten de facto schon entschieden, bevor überhaupt der erste seine Stimme abgegeben hat. Deshalb gehen viele erst gar nicht zur Wahl. Wozu sich die Mühe machen, wenn es am Ergebnis eh nichts ändert? Diese Bundesstaaten haben auch keinen Grund, für eine hohe Wahlbeteiligung zu werben: Sie bekommen immer die gleiche Zahl an Wahlleuten, egal, wie viele Leute wählen. Die Stimmen in den bevölkerungsreichsten Staaten haben dank dieses Systems weniger Gewicht als die Stimmen in den bevölkerungsarmen. Konkret: Eine Stimme in Wyoming hat dreimal soviel Gewicht wie eine in Kalifornien. »In einer Demokratie zählt jede Stimme gleich viel, unabhängig vom Alter, von der Rasse, dem Einkommen, der Religion oder dem Wohnort«, sagt Douglas McAdam, Soziologie-Professor in Stanford. »Aber die Stimmen in Swing States zählen ganz klar viel mehr als die in Kalifornien oder Texas. Ich verstehe nicht, warum wir zu diesem Zeitpunkt noch an einem Prinzip festhalten, das nicht auf Gleichheit beruht.«
6. Sechs Millionen Amerikaner - immerhin 2,5 Prozent der Wahlberechtigen - haben ihre Bürgerrechte verloren. Warum? Weil sie im Gefängnis sitzen oder saßen. Dass konservative Staaten wie Florida Ex-Häftlingen das Wahlrecht verweigern, selbst wenn sie ihre Strafen schon lange abgesessen haben oder für Dinge verhaftet wurden, die längst nicht mehr strafbar sind (wie den Besitz von Cannabis), kann das Zünglein an der Waage sein; mehr dazu hier. Wenn ich in Amerika erzähle, dass die meisten deutschen Gefängnisinsassen selbstverständlich wählen dürfen (es sei denn, das aktive Wahlrecht wurde ihnen vom Richter ausdrücklich entzogen), fallen Amerikaner aus allen Wolken.
7. 2016 war die erste Präsidenten-Wahl, seit der Oberste Gerichtshof den Voting Rights Act ausgehebelt hat, also das Gesetz zum Schutz der Wählerrechte. Republikaner entschieden in mehreren von ihnen kontrollierten Staaten, Hunderte Wahllokale zu schließen, strengere Regeln für Frühwähler einzuführen und auf extra Identifikation zu bestehen – vor allem in Gegenden, in denen viele Afro-Amerikaner, Latinos und Studenten wählen. Beispiel Wisconsin: Trump gewann dort mit nur 27000 Stimmen Vorsprung. Aber 300000 registrierte Wähler erfüllten die Kriterien der strengeren ID-Gesetze nicht. So hatte etwa die 90 Jahre alte Christine Krucki in jeder Präsidentschaftswahl seit 1948 gewählt und freute sich darauf, 2016 zum ersten Mal für eine Frau zu stimmen. Sie durfte aber nicht, und zwar wegen eines Formfehlers: Ihre Geburtsurkunde und ihre Eheurkunde buchstabierten ihren Geburtsnamen unterschiedlich. Auch wegen der neuen Regeln war die Wahlbeteiligung in Wisconsin so niedrig wie seit 20 Jahren nicht mehr. In North Carolina fand ein Gericht, der US Court of Appeals, die verschärften Regeln »zielten mit fast chirurgischer Präzision auf schwarze Wähler«. 185 Wahllokale wurden dort geschlossen, und zwar in den Gebieten mit überwiegend schwarzer Bevölkerung. »Die jüngsten Gesetzesänderungen wurden oft durch Partei-Interessen motiviert und schaffen ungebührliche Hindernisse für Wähler«, erkannten die internationalen Wahlbeobachter der Organization for Security and Cooperation in Europe. »Das Wahlrecht wird nicht allen Bürgern garantiert.«
8. In diesem System sind viele Bürgeranliegen nicht proportional vertreten, gerade in dieser Wahlperiode, weil die Republikaner auch den Kongress und den Senat kontrollieren. Ein Beispiel: Umweltschutz. Die Mehrzahl der Amerikaner hält den Klimawandel inzwischen für ein ernsthaftes Problem und wünscht sich, dass ihre Volksvertreter es ernst nehmen. Aber der gewählte Präsident, sein Vize Mike Pence und der Öllobbyist Myron Ebell, dem Trump die Umweltbehörde übertrug, halten den Klimawandel trotz aller Fakten alle für eine Erfindung. Wenn sie ihre Wahlversprechen umsetzen, wird Amerika das Klima-Abkommen von Paris kündigen, die eh schon schwachen Umweltgesetze aushebeln, Pestizide deregulieren und der Kohle-Industrie ein unverdientes Revival bescheren - alles Maßnahmen, die Generationen von Menschen und der ganzen Welt schaden.
9. Das erbärmliche Gerangel um den Supreme Court. Dass die Republikaner der Obama-Regierung die Ernennung eines Supreme Court Richters verweigerten, den sie kurz zuvor noch in den höchsten Tönen für seine Qualifikation gelobt hatten, dass sie sogar erwogen, die Ernennung eines Supreme Court Richters während einer ganzen Hillary-Regierungsperiode zu blockieren, zeigt: Die Gewaltenteilung funktioniert nicht mehr. Trump kann sich nun einen rechten Richter seiner Wahl suchen. Weil drei der Richter über 80 sind, besteht durchaus die Wahrscheinlichkeit, dass er im Laufe seiner Amtszeit noch einige weitere Posten besetzen darf, natürlich auf Lebenszeit. Das heisst: Auch wenn sich die Mehrheit der Amerikaner für ein Recht auf Abtreibung einsetzt, kann Trump wie angekündigt den Obersten Gerichtshof so weit nach rechts rücken, dass Abtreibung wieder strafbar wird.
10. Demokratie bedeutet, dass auch kritische Medien ihre Arbeit machen dürfen. Trump hat angekündigt, Medien zu verklagen, die negativ über ihn berichten. Seine Angriffe auf angesehene Medien wie die New York Times oder Washington Post sind für einen angehenden Präsidenten beispiellos, ebenso seine Versuche, Reporter zu beeinflussen. Fox-Starreporterin Megyn Kelly musste sich Leibwächter zulegen, nachdem sie Trump einige kritische Fragen gestellt hatte. Dass er den ehemaligen Chef einer der übelsten Hetzseiten zum Chef-Strategen ernannt hat, lässt Schlimmstes befürchten. Bei Trump-Rallys tragen Trump-Anhänger T-Shirts wie »Baum, Strick, Journalist. Die Montage musst du selbst übernehmen.«
11. Freie Wahlen dürfen nicht von fremden Mächten beeinflusst werden. Als er diese Woche beim Forum des Wall Street Journals auf WikiLeaks und die gehackten Emails der Demokraten angesprochen wurde, sagte der Chef des Geheimdienstes NSA (National Security Agency), Admiral Michael Rogers: »Da sollte keiner irgendeinen Zweifel haben: Das war nichts, was beiläufig oder zufällig passierte, und die Opfer wurden nicht willkürlich ausgesucht. Das war ein bewusster Versuch eines Staates, ein ganz bestimmtes Ziel zu erreichen.« My Pasdrawlájim, Putin! Herzlichen Glückwunsch!
12. Die internationalen Wahlbeobachter, etwa der OSCE, fanden zahlreiche Probleme, unter anderem stellten sie fest, dass 13 Prozent der elektronischen Wahlcomputer nicht richtig funktionierten. Anders ausgedrückt: Das betrifft fast jede 8. Stimme.
13. Geld in der Politik. Dabei haben wir noch gar nicht von den irrsinnigen Summen gesprochen, die in die Politik fließen, seit der Oberste Gerichtshof anonyme Wahlkampf-Spenden in unbegrenzter Höhe erlaubt hat. Kaum ein Politiker kann es sich noch erlauben, die Interessen der großen Konzerne und ihrer Lobbyisten zu ignorieren - aber die Bürger haben nicht einmal das Recht zu erfahren, wer wen finanziert.
Seine Rede in Griechenland schloss Barack Obama mit dem Appell: »Fortschritt muss sich jede Generation verdienen. Wir Bürger der Welt sind verantwortlich dafür, den Bogen der Geschichte hin zur Gerechtigkeit zu biegen. Das geht durch Demokratie.« Die wichtigste Rolle sei nicht die des Präsidenten, sondern »die des Bürgers«. Die Zeit drängt: Die nächste US-Präsidentschafts-Wahl ist in 1446 Tagen! Bis dahin haben die Bürger ein riesige Aufgabe: Make America's Democracy Great Again!