Vom Baum zur Erkenntnis

Kaum ein Material trägt uns so formschön durchs Leben wie Holz. Eine Verneigung.

Der kleinste Gebrauchsgegenstand, der aus einem Baum geformt wird, ist der Zahnstocher.

Illustration: Lan Truong

Vielleicht muss man beim Zahnstocher anfangen. Ein Zahnstocher ist ein Baum, den der Mensch aus dem Wald geholt hat. Um ihn kleinzukriegen, sind neun verschiedene Maschinen notwendig. Sie schneiden ihn, meistens ist es eine Buche, in Bretter, dann mehrmals zu Kleinholz, fräsen ihn zu dünnen runden Stäben und schleifen schließlich daran herum, bis der große Baum aus dem Wald klein genug ist, um in einen menschlichen Zahn­zwischenraum zu passen. Zwei Sekunden nach diesem Vorgang liegt ein Stück Massivholz im Müll. Aber so ist das mit Holz. Es ist uns so nah und vertraut, dass wir manchmal vor lauter Holzprodukten den Wald nicht mehr sehen, aus dem das alles kam. Eine Spülbürste, ein Schneidbrettchen, ein Sofafuß, ein Schrank, ein Gartenhaus, eine Europalette, eine Segeljacht, diese Seite Papier. Stand alles mal im Wald. Holz begleitet uns, von der Brio-Eisenbahn bis zum Sarg. Und der billigste und teuerste Gegenstand in einem wohlhabenden Haushalt, der Zahnstocher und der Flügel, sind aus dem gleichen Werkstoff.

Holz ist toll. Es ist hart, trotzdem kann jeder Amateur es halbwegs bearbeiten. Es trägt schwerste Lasten, es geht gern schwimmen, es macht Musik. Es lässt Wein reifen, bindet CO2 und spendet Wärme, und das nicht nur, wenn man es verbrennt. Schon das Wort hat ja einen gemütlichen Klang, okay, vielleicht mal abgesehen von dem Begriff Holzklasse. Wobei uns ein Zugwaggon mit blank gescheuerten Holzbänken schon wieder ein heimeliges Gefühl vermitteln würde. Die Botschaft von Holz ist immer irgendwie: Alles gut. Wer in eine frisch aufgeheizte Sauna tritt, fällt ja erst mal um vor lauter warmem Waldaroma. Und Holz zu bearbeiten macht auch glücklich, das weiß jeder, der gelegentlich einen Nagel oder eine Schraube satt in einem Fichtenkantholz versenkt. Oder mit einem Taschen­messer einen Stock schnitzt, einfach so.

Holz trägt Partei­werbung an der Straße genauso gleichgültig wie Venedig durch die Jahrhunderte

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Sogar die brutalen Harvester-Maschinen, mit denen heute die Bäume im Sekundentakt gefällt, entastet und geschnitten werden, haben auf manche offenbar eine meditative Wirkung. Anders ist kaum zu erklären, dass ein viertelstündiges Video von einem Harvester in einem deutschen Wald mehr als fünf Millionen Klicks auf Youtube erzielt hat. Und das ist noch nichts im Vergleich zu dem Dada-Song Holz der Band 257ers, der in den vergangenen zwei Jahren bereits mehr als vierzig Millionen Mal abgespielt wurde und die vage Holzliebe der Deutschen im Refrain recht gut auf den Punkt bringt: »Ich und mein Holz! Holzi, Holzi, Holz!« Obwohl wir das Holz derart hart rannehmen, ist es immer noch gutmütig. Es trägt Parteiwerbung an der Straße sechs Wochen lang genauso gleichgültig, wie es Venedig durch die Jahrhunderte trägt.

Um sich an die Würde des Holzes zu erinnern, muss man nur mal das älteste Stück Holz suchen, das man im Haushalt hat. Ein alter Messergriff vielleicht, ein abgewetzter Hocker oder der Stiel von Opas Schaufel, der von Generationen an Händen ganz glatt gefasst ist. Es ist wie ein Zeitspeicher, nicht nur weil es selbst Jahresringe hat. Holz reift edel, wenn es das Glück hatte, zum Lenkrad eines Alfa Romeo zu werden. Holz verfault zu Humus, wenn man es in der dunklen Ecke im Garten liegenlässt. Es altert mit uns, und irgendwie werden sogar seine Falten mit der Zeit tiefer. Selbst das olle Ivar-Regal sieht nach vierzig Jahren in der Kellerecke antik und edel aus.

Vor rund 150 Jahren entwickelte Michael Thonet seinen berühmten Kaffeehausstuhl »214« aus Bugholz.

Illustration: Lan Truong

Als Kind hat man Holz noch intuitiv verstanden und konnte ewig in der Holzvertäfelung an der Decke fernsehen: Jedes Astloch war ein Auge, jede Maserung ein lebendes Muster, jede Rille etwas, an dem man mit dem Finger entlangfahren musste. Und nachts knackte es ein bisschen gruselig im Gebälk, aber das war auch nur das Holz, das sich gemütlich räkelte. Eigentlich komisch, dass man Holz nicht essen kann. Eichenbraten in Barolo, das wäre doch ein gutes Gericht für den Herbst.

Der Mensch lebt schon immer mit und dank Holz. In Nieder­sachsen wurden Holzspeere gefunden, die mehr als 400 000 Jahre alt sein sollen. Die Ausrüstung vom Gletscher-Ötzi enthielt ganze 17 verschiedene Holzarten. Und mit Holzmöbeln zu wohnen war in unseren Breiten lange Zeit die einzige Art zu wohnen. Kein anderes Material war so verfügbar, leicht in Form zu bringen, zu reparieren und zu recyceln, auch wenn es das Wort noch nicht gab. Seit ein Herr Thonet Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckt hatte, dass sich Buchenholzstäbe erwärmen und dann in Stuhlform biegen lassen, wurden Holzmöbel sogar richtig leicht, halbwegs erschwinglich und tatsächlich: mobil.

Erst der sehr moderne Mensch hat die Wahl, ob sein Stuhl aus Polypropylen, Alu oder Blech, aus Bug-, Pag- oder Sperrholz sein soll oder einem anderen Holzderivat. Diese modernen Werkstoffe haben auf dem Papier einige Vorteile, allen voran die Spanplatte. Die fand in Deutschland ab 1950 so viele Anhänger in der Möbelbranche, dass Deutschland in den Achtzigerjahren sogar Spanplatten-Produktionsweltmeister wurde, kein besonders schöner Titel. Eine Spanplatte verhält sich zu Massivholz wie eine McDonald’s-Bulette zu einem Steak. Holzspäne und Kunstharz werden zusammen in Form gepresst, und dann kommt eine Kunststoffbeschichtung darüber. Spanplatten sind leicht, billig und gut zu verleimen, man kann den kompletten Baum dafür verhäckseln, sie schwinden und verziehen nicht. Das ist auch ihre Charakterschwäche. Massives Holz lebt und arbeitet weiter, Spanplatten sind von Anfang an tot, sie machen einen nicht sentimental und erzählen nie irgendwas von draußen.

Es ist kein Wunder, dass sich die meisten, die in all den »Eiche rustikal« furnierten Wohnzimmern aufgewachsen sind, mit Jugendzimmerkommoden, aus deren angeschlagenen Ecken irgendwann die braune Fülle bröselte, heute nach Echtholz sehnen. In den Neunziger­jahren bekam die Spanplatte Konkurrenz von MDF, der mitteldichten Faserplatte. Für die wird Holz noch feiner zerfasert und dann verharzt, das macht das Material homogener, noch besser zu verarbeiten. Die Designer mögen MDF, vor allem die puristischen. Bei denen zahlt man heute für ein Sideboard aus dem Holzsubstitut fünfmal mehr als für eine handgefertigte Gründerzeitkommode aus Ahornholz, was eigentlich schwer zu erklären ist. Für Spanplatten und MDF wird kein Tischler mehr gebraucht, die Teile werden verklebt und verschraubt, eine saubere Schwalbenschwanzverzinkung ist mit diesen Mischmaterialien weder möglich noch vorgesehen. Genauso wenig lassen sie sich drechseln oder mit heißem Dampf in Form biegen. Auch deshalb kommt einem das Möbelhaus-Inventar heute oft so belanglos vor – es ist belanglos und folgt in seinen Formen der industriellen Machbarkeit und nicht mehr der Idee eines Menschen.

Seltsam: Trotz ihrer ganzen Künstlichkeit altert die Spanplatte schneller als jedes andere Wohnmaterial. Es dauert viel länger, bis ein Vollholzmöbel aus der Mode kommt, egal, wie verschnitzt und verbollert es vielleicht ist. Und aus einem alten Holzbett oder einem Dachbalken kann man immer noch einen Tisch zimmern oder ein Regal, die sich dann wieder mehrfach schleifen und anmalen, abbeizen und hobeln lassen. Wenn auch das nichts mehr nützt, kann man noch eine Woche lang damit heizen oder elf Lagerfeuer anzetteln. Holz ist ein multipler Werkstoff, der nicht recht an Wert verliert und seine Besitzer deshalb immer wieder weiterdenken lässt. Leichtfertig wegwerfen oder in die Wertstoffhofpresse geben – das tut man mit einem Massivholzding nicht, es ist irgendwie gegen die Natur.

Das Ikea-Regal »Billy« aus Spanplatten kam 1978 auf den Markt.

Der Hocker »­Backenzahn« aus Massivholz, von e15.

Illustration: Lan Truong

Auch wenn viel von 3D-Druckern geredet wird, seit etwa 15 Jahren sind die Hallen der Möbelmessen wieder voller Holz. Je natürlicher, desto besser. Einer der Vorreiter war die Frankfurter Firma e15. Deren Gründer Philipp Mainzer hat auf der Kölner Möbelmesse 1996 einen massiven, kantigen Holztisch aus dicken Eichenbrettern aufgebaut und einen Hocker, der aussah wie der Backenzahn eines hölzernen Riesen. Mainzer hatte damals gerade die Londoner Designuniversität absolviert und wollte radikale, einfache Möbel anbieten, die nicht so kühl waren wie das Techno-Leben der Neunziger. Es war die Zeit, in der das britische Magazin Wallpaper eine neue Wohnkultur ausgerufen hatte und die Grenzen zwischen Büro, Wohnzimmer und Atelier aufweichten – mit viel Glas, Stahl­sesseln, italienischen Plastikmöbeln und Klavierlackoberflächen, in denen sich das Logo von Windows 95 spiegelte. Mainzers Tische und Hocker wirkten in dieser sterilen Umgebung so passend wie Naturburschen auf der Raumstation, sie waren das Gegenteil von digital. »Wir wurden ausgelacht. Trotzdem wollten alle unsere Sachen anfassen«, sagt Mainzer heute. Da wirkte der wenig erforschte Magnetismus von Holz! Es zieht die Menschen an, sie wollen es streicheln. Deshalb wurden die kernigen e15-Holzmöbel bald ein Erfolg. Mainzer verwendet bis heute gern Europäische Eiche, die Bohlen so dick, dass das Holz dafür erst mal drei bis fünf Jahre lang trocknen muss. Und er hat eine besondere Liebe zu kleinen Fehlern, Rissen und Astlöchern, die jedes der Stücke zu einem Unikat machen. Vor lauter Laminat und Furnier hatte man ja fast vergessen, dass Holz auf jedem Meter anders aussieht.

Je virtueller die Welt wird, desto wichtiger scheint uns die Erinnerung an echtes Holz in der Wohnumgebung zu werden. Deshalb auch haben die Skandinavier seit Jahrzehnten die Branche mit ihren Designs im Griff. Die haben schon immer verstanden, dass sichtbares, freundliches Holz zu einem guten Leben gehört. Aber die allgemeine Holzliebe wuchs zuletzt über Stühle und Tische hinaus. Man wollte selbst Hand anlegen, und Holz lässt das freundlicherweise zu. Es ist ein Rohstoff für Einsteiger. Der Buchmarkt verzeichnet Dutzende neue Ratgeber zum Möbelbau, Do-it-yourself-Blogs und Upcycling-Bildergalerien werden geklickt und geklickt, und Europaletten sind flächendeckend als wertvoller Rohstoff für die Möblierung von Szenevierteln akzeptiert. Sogar Sargbaukurse für Anfänger gibt es!

Baum des Todes: Standardsärge bestehen aus Kiefer oder Fichte, gehobene Modelle aus Mahagoni oder Eiche.

Illustration: Lan Truong

Die Burgerkette »Hans im Glück«, die seit Jahren erfolgreich expandiert, stattet jedes Restaurant üppig mit deckenhohen, echten Birkenstämmen aus. Und Karl Lagerfeld inszenierte im März seine Herbst/Winter-Kollektion für Chanel im Pariser Grand Palais in einem echten Eichenwald, mit tonnenweise Laub. Hundert neue Eichen will das Modelabel als Wiedergutmachung für die gefäll­ten Bäume pflanzen lassen – ein Klacks für den Effekt, den Lagerfeld mit der Kulisse bei der urbanen Elite erzielte: Die Leute drehten durch. Wegen eines Stückchens Wald, im weitgehend asphaltierten Paris. Holz wirkt! Und selbst im Auto-Interieur, in dem jahrzehntelang glossiger Lack jedes Stück Holz umgeben musste, bieten die Premiumhersteller heute offen­poriges Holz an, nur echt mit fühlbarer Struktur.

Zum 20. Geburtstag seines dickholzigen Backenzahn-Hockers, der längst Eingang in den Design­kanon der Gegenwart gefunden hat, stellte Philipp Mainzer auf der Möbelmesse 2016 dann zwanzig Holzhocker aus, die alle Nachbauten seines Meisterstücks waren. Da lachte niemand mehr. Aber jeder sah, dass zwischen Holz und Holz große Unterschiede bestehen können und es gar nicht so einfach ist, vier massive Scheite mit exakten Spalt­maßen und einer stabilen Verbindung zusammenzubringen. Wer mit Holz arbeitet, scheitert auch immer wieder daran. Oder besser: der merkt, dass es ein organisches Material ist, zäh, eigenwillig und bis zu einem gewissen Grad unberechenbar. Es ist eigentlich wie der Mensch, aber es riecht besser.