Das Leben der Anderen

Wenn die Bäume kahl werden, geben sie oft die Sicht auf die Nachbarn im Haus ­gegenüber frei. Das kann erhellend sein – für das eigene Leben und den Lauf der Dinge.

Es kommt mir vor, als gäbe es diese Menschen gar nicht in echt, sondern immer nur hinter ihrem Küchenfenster.

Illustration: Yves Haltner

Immer wenn die Blätter fallen, kommen unsere Nachbarn zurück. Nicht von ihrer Weltreise oder dem Zweitwohnsitz, sie tauchen einfach nur wieder vor unserem Fenster auf. Denn in unserer Straße stehen zwei­reihig Lindenbäume und sorgen von Mai bis Oktober für natürlichen Sichtschutz vor den Fenstern. Für die restlichen sechs Monate nehmen wir dann die Menschen von der anderen Straßenseite bei uns auf und umgekehrt. Es ist ein besonderer Tag, wenn das letzte Blatt gefallen ist. Man kennt sich schließlich schon sehr lange. Aber eben nur vom Sehen.

Egal, ob von der Vegetation beeinflusst oder das ganze Jahr über in Sichtweite: Das Seltsame an Fens­ternachbarn ist, dass sie einem gleichzeitig näher und fremder sind als richtige Nachbarn. Für die Menschen, die mit uns im Haus wohnen, nehmen wir ja Pakete an, wir begegnen ihnen im Flur, kennen ihre Fahrräder, Kinderwagen und bevorzugten Lieferdienste und leider auch ihren Musikgeschmack. Aber wir sehen sie eigentlich immer fix und fertig angezogen und öffnen selbst auch nur die Tür, wenn wir im halbwegs repräsentativen Zustand sind. Bei den Fensternachbarn verhält es sich genau umgekehrt. Vollständig bekleidet auf der Straße würden wir sie vielleicht gar nicht erkennen, wir wissen ­weder ihren Namen noch wie es riecht, wenn sie kochen, dafür wissen wir viel privatere Dinge: dass die kleine Familie links immer geschlossen im Bade­mantel frühstückt, das Seniorenpaar darüber freitags einen radikalen Großputz macht und der allein­stehende Mann von schräg gegenüber viel Zeit mit dem Reinigen seiner Espressomaschine und vor einem rätselhaften Computerspiel verbringt. Wir bilden eine ziemlich private Schicksalsgemeinschaft mit den Menschen von der anderen Straßenseite.

Die Nachbarn im eigenen Haus grüßt man ja nicht nur, diese Menschen scheinen uns auch bisweilen geeignet, zu guten Bekannten oder Freunden zu werden. Zumindest kommt man sich beim Hofflohmarkt, beim Warten auf den Kaminkehrer, beim gegenseitigen Blumengießen etwas näher. Und man schläft unter einem Dach, vielleicht verbindet das einfach. Die Fensternachbarn gegenüber hingegen, gerade mal fünfzehn Meter Luftlinie entfernt, sind so weit weg wie Schauspieler in einem Stummfilm. Wir haben sie noch nie gesprochen, wir teilen nichts miteinander, nur eben die gleiche Geschosshöhe und die Lindenstraße. Obwohl es eigentlich wirklich langsam angezeigt wäre, so wäre es auch wirklich ein Schreck, wenn sie auf einmal rüberwinken würden. Manchmal kommt es mir sogar vor, als gäbe es diese Menschen gar nicht in echt und auf der ­Straße, sondern nur immer da, hinter ihrem Küchenfenster.

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Das Hinüberschauen lässt sich nicht vermeiden. In den ersten Wochen ohne Blätter geniert es einen immer noch, zufällig mitzukriegen, wie der ältere Herr beim vorabendlichen Fernsehen die Socken­füße auf dem dafür bereitstehenden Hocker ablegt. Oder wie das Kind statt Klavier zu üben in der Nase bohrt. Das sind intime Vorgänge, ohne Frage. Aber das Genieren gibt sich mit den Wochen. Vor Weihnachten ist die doppelte Haushaltsführung schon wieder ganz normal, und wir checken routinemäßig, wie weit die anderen schon mit ihren Vorbereitungen sind. Und schließlich zappen die im gleichen Maße ja auch bei uns rein.

Man will nicht den ganzen Tag hinter geschlossenen Vorhängen verbringen, in der dunklen Jahreszeit sind meistens alle Zimmer gut ausgeleuchtet, und irgendwann läuft jeder mal in Unterhose durchs Bild. Ist halt so. Aber mit Fensternachbarn ist es wie mit Sitznachbarn in der Sauna, man schließt einen unausgesprochenen Nichtangriffspakt, der in etwa lautet: Gut, alle schauen ein bisschen, aber niemand lässt sich irgend­was anmerken, okay? Nur so funktioniert das. Würde drüben einer am Fenster stehen und wie ­hypnotisiert zu uns rüberstarren, wäre das fragile Gleichgewicht komplett zerstört. So aber scheinen alle in kritischen Momenten zu glauben, was ich meiner Frau auch gelegentlich versichere: Ach, die sehen doch gar nichts! Obwohl ich sogar weiß, ­welche Frühstückscerealien derzeit bei der Familie angesagt sind.

Da wir in der Totalen auf das Mietshaus gegenüber schauen, haben wir manchmal ein Panorama wie in einem Buch von Ali Mitgutsch

Wenn das Thema Fensternachbarn in Filmen oder Romanen behandelt wird, ist das alles immer sehr aufregend. Zugespitzt ausgedrückt, gibt es dann mindestens einen Mord oder zügellosen Sex oder wenigstens eine Amour fou mit verschiedenen Teilnehmern zu beobachten. Ich kann auch nach vielen Jahren als winterlicher Fensternachbar nichts dergleichen von drüben berichten.

Bei den anderen besteht das Leben aus den gleichen hundertfachen Alltagswiederholungen wie bei uns: Kaffeebecher von morgens stehen bis nachmittags am Tisch, Kinder werfen Jacken auf den Boden, dauernd muss die Spülmaschine aus- und die Waschmaschine eingeräumt werden, manchmal sind Gäste da, dann gibt es Kerzen und Wein. An manchen Tagen finde ich entsetzlich, dass alles so banal ist und wir alle in unseren Wohnwaben unsere kleinen Leben vertrödeln, jede Woche, jedes Jahr.

Aber andererseits ist es auch beruhigend, denn man sieht hinüber wie in einen Spiegel. Vor dem Alleinstehenden lebte ein junges Paar da, erste gemeinsame Wohnung ver­mutlich. Sie hatten romantische Abendessen um Mitternacht, setzten sich zum Rauchen riskant aufs Fensterbrett, tanzten vor der Mikrowelle, stritten theatralisch und vertrugen sich wieder. Und schräg darüber wohnte gleichzeitig das andere Paar, vierzig Jahre älter, mit dem Fußhocker beim Fernsehen und dem freitäglichen Großputz. Man sah das von gegenüber und dachte: So gehört das eben, erst ist es so und dann so. Das Haus gegenüber gibt es seit hundert Jahren, und wahrscheinlich wird sich diese Ordnung auch in hundert Jahren noch in diesen Zimmern wiederholen.

Da wir sozusagen in der Totalen auf das Mietshaus gegenüber schauen, haben wir manchmal ein Panorama wie in einem Buch von Ali Mitgutsch: Unten Kindergeburtstag, darüber guckt Opi Sportschau, daneben telefoniert der Typ aufgeregt ­wedelnd mit irgendwem, und darunter rennt eine Frau mit Handtuchturban und pinken Abschwellpads unter den Augen durch die Zimmer und saugt Staub. Ein Panoptikum des Samstagnachmittags und ein be­ruhigendes Gefühl, dass sich alles irgendwie weiterdreht. Vor allem während der Corona-Lockdowns war diese Aussicht wesentlich beruhigender als die Brennpunkte der ARD. Manchmal haben wir heute immer noch Lust, ein Schild ins Fenster zu stellen, auf dem etwas steht wie: Schöne neue Küchenlampe, woher ist die? Aber das wäre natürlich total übergriffig. Schließlich kennen wir diese Menschen gar nicht. Außerdem verschwinden sie wieder, wenn der Frühling kommt.