Aus dem Bauch heraus

Alle Welt rät davon ab, hungrig einkaufen zu gehen. Aber unser Autor findet sein Seelenheil darin. Gedanken über Fremdsteuerung und Selbstmanipulation im Supermarkt.

Die Universität Wien ließ mal Studierende zuerst gedanklich Gummibärchen essen, bevor sie wirklich welche verspeisten. Das Ergebnis: Der Heißhunger war kleiner. Klappt bei ihm nicht so, sagt unser Autor.

Foto: Unsplash/Luis Aguila

Kurz vor Kasse 2 denke ich, dass mich jetzt unbedingt jemand aufhalten muss. Ich gucke in meinen Einkaufswagen, dann zum Typen vor mir, der nichts als einen Magermilchjoghurt bei sich hat, dann wieder in den Wagen: Noch ist es nicht zu spät. Aber da mich niemand errettet, ergebe ich mich meinem Schicksal und packe alles aufs Band. Kennen Sie das, wenn Sie in der Schlange aus Langeweile anfangen, sich das Leben der anderen Schlangesteher nach den Dingen auf dem Fließband auszumalen? Probieren Sie das mal bei mir: Kochbananen, Kokosmilch, Fleischsalat, ein Riesenglas Spreewälder Gewürzgurken, Himbeermarmelade, Pflaumenmarmelade (ich konnte mich nicht entscheiden), Packung Tagliatelle, Packung Fusilli (ich konnte mich nicht entscheiden) und Datteln, sehr viele Datteln. Klingt nach jemandem, der kulinarisch furchtlos ist. Oder völlig verloren. Vielleicht beides.

Tja, selbst schuld, könnte man meinen. Weiß doch jeder Depp, dass man nicht mit leerem Magen in den Supermarkt geht. Googelt man »hungrig einkaufen«, hört man das gesamte Internet schreien: Tu! Es! Nicht! Was der Hunger andernfalls anrichtet, ist bekannt: Das Gehirn schaltet irgendwann auf Durchzug, man kauft mehr, gibt mehr Geld aus, nicht nur für Essen, sondern generell für Zeug, das man nicht braucht. Die Warnung ist: Achtung, Sie manipulieren sich gleich selbst!

Dabei ist der ganze Supermarkt ja pure Manipulation. Jeder Gang und jede Dose sind sorgfältig platziert und angeordnet nach Berechnungen klemmbrettkritzelnder Männer und kitteltragender Frauen. Da werden Testkäufer in Testlabore geschickt wie Hamster ins ­Labyrinth. Was man so schon alles herausgefunden hat: Wenn zu ­viele Marmeladengläser im Marmeladenregal stehen, schnappen sich die meisten nicht irgendeins, sondern gar keins. Das Obst in den Weidenkörben, die Spiegel über dem Gemüse, die Dudelmusik über und die blitzeblanken Fliesen unter uns – alles Methode. Selbst die Griffe beim Einkaufswagen. Angeblich geben die Menschen mehr Geld aus, wenn die nach vorne zeigen wie bei einer Schubkarre, als wenn der Wagen nur eine normale Querstange hat.

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Dann manipuliere ich mich tatsächlich lieber selbst. Dabei ist Hunger natürlich nicht das angenehmste Mittel. Aber er entfacht etwas in mir, das ich nur auf diesem Weg hervorzubringen vermag.

Sonst ist es ja so: Man zieht mit dem Einkaufszettel los, auf dem nur das Geplante, das Nötige steht, jeder Spiegelstrich auf Effizienz getrimmt. Zutaten für genau dieses Gericht, das an genau diesem Tag in genau dieser Menge zubereitet wird. Meistens sind das schnelle Gerichte, denn Kochen, und damit auch das Essen, das Einkaufen, der Genuss überhaupt: Alles muss schnell gehen und irgendwie reinpassen in die gequetschte Stunde zwischen Feierabend und Tagesschau. Im Supermarkt rennt man so schnell und zielgerichtet durch die Gänge, als wäre es ein Spießrutenlauf. Und dabei verpasst man etwas. Wie ein Wanderer, der im Gewaltmarsch zur Bergspitze prescht und so den Blick nach rechts und links verliert. Wer aber mal dem Impuls nachgibt und zulässt, was der Kaufdrang alles zusammen­würfelt, klopft sich damit nach einem stressigen Tag auch auf die Schulter. Ist schon okay. Ich finde, das gönnt man sich zu selten. ­Außerdem legt das hungrige Einkaufen seelische Kanäle frei, die schon verstopft und verschüttet waren.

Neulich lag ich auf der Couch, und während ich so an die Decke starrte, träumte ich von Wurst. Von Wiener Würstchen, knackigen, deliziösen Kalorienschleudern von zweifelhafter Herkunft und mit süßem Senf. Mein Kühlschrank war so leer wie mein Magen, also ging ich in den Supermarkt. Beim Sellerie brachen alle Dämme. Plötzlich brodelten Zutaten und Geschmäcker hoch, an die ich schon lange nicht mehr gedacht hatte und die ich mir sonst nie erlauben würde. Ständig unterdrückt man ja dieses und jenes, zu viel Zucker, zu viel Fett. Es ist ein ständiges Optimieren und Reduzieren. Doch der Sellerie erinnerte mich an den Sommer mit Anna und Tagliatelle al ragù, in die Sellerie zwecks heiliger Dreieinigkeit gehört. Dazu frisches, knuspriges Brot, was auch zu den Würstchen passen würde. Überhaupt Brotzeit, tolle Sache, mit Sauerkraut, und das passt wiederum hervorragend zu Bibimbap, das hatte ich mal bei diesem unfassbar ­guten, grabbeligen Koreaner in Berlin gehabt, und wenn wir schon bei deftigen Reisgerichten sind: Wie geil war denn damals in Brasilien­ diese frittierte Kochbanane zur Feijoada?

Was danach passiert ist, weiß ich nicht mehr so ganz. Kann sein, dass mir Frau Uhlig an der Fleischtheke zwei Wienerle mit einem Blick in die Hand drückte, als würde sie einen Welpen einschläfern. Kann sein, dass ich eines davon gleich um die Ecke bei den Freilandeiern vertilgte. Ich kriege das nicht mehr so ganz zusammen. Was ich noch weiß, ist, dass dieses Würstchen besser schmeckte als das ­Ramadan-Festmahl nach Sonnenuntergang vor ein paar Jahren. Von dem würde ich auch gern mal erzählen. Aber nicht jetzt. Jetzt habe ich wirklich Hunger bekommen.