Eigentlich sind es nur Fetzen. Niemand kann diese Hosen noch tragen. Sie sind staubig, zerschlissen, und den meisten fehlt ein Bein oder mehr. Und doch sucht Mike Harris, 41, aus Orange County in Kalifornien wie besessen nach ihnen. Er findet sie in alten Minen, wo er nach ihnen gräbt mit Pickel und Schaufel. Dort herrschen perfekte konservatorische Verhältnisse: im Schnitt 20 Grad, staubtrocken. Hunderte gibt es von diesen verlassenen Stollen und Schächten in Nevada, Arizona, Kalifornien – überall da, wo vor über 120 Jahren Gold- und Silbergräber ihr Glück suchten und nur wenige es wirklich fanden. Die meisten hinterließen nur Löcher in der kargen Wüstenlandschaft und darin jede Menge Verzweiflung, Schnapsflaschen, Revolver, Werkzeug und eben auch ein Paar Jeans.
1988 machte Mike Harris seine erste Beute, eine Jeansjacke - wo, will er nicht verraten, so wie Angler ihre Fischgründe nicht verraten. Auf die Fährte hatte ihn sein Schwiegervater Russ Miller gebracht, ein Geologe. Der war ein »Bottlehunter«, einer, der in Geisterstädten und Minen nach alten Flaschen sucht: bunte, krumme, irgendwie sonderbare Flaschen, die im späten 19. Jahrhundert im Umlauf waren und bis heute unter Sammlern sehr begehrt sind. Er hatte ihn ein paarmal mitgenommen, und bald war auch Mike ein Bottlehunter. Allerdings war die Blütezeit des Flaschenjagens lange vorbei, die meisten Minen abgegrast. Statt Flaschen fanden die beiden meist nur Scherben, Abfall, Tabakpfeifen, Konservendosen. All das eben, was alle vor ihnen liegen gelassen hatten, weil sie es als Müll abtaten. Einmal aber lugte eine Jeansjacke aus dem Abraum. Harris legte sie zur Hälfte frei, zog kräftig mit beiden Händen und riss sie entzwei. »Typischer Anfängerfehler«, sagt er heute. Bis jetzt hat er keine unversehrte mehr gefunden.
Es sollte noch acht Jahre dauern, bis er seine erste Hose freischaufelte, die Flaschen aufgab und sich ganz seiner neuen Leidenschaft verschrieb. Mit jedem Fund wuchsen Jagdfieber und Neugier. Harris verglich die Stücke mit alten Fotos, ging in die Archive. Vor seinen Augen setzte sich ein Puzzle zusammen, das aus Halbwahrheiten, Mythen und Leerstellen zu bestehen schien. Es ging um erloschene Hersteller mit Namen wie Greenbaum oder Neustadter, um verräterische Schreibweisen auf Logos, um besondere Nähte und patentrechtliche Fragen. Er hatte einen weißen Fleck in der Geschichtsschreibung entdeckt, der nun vor ihm lag wie die Weiten der Wüste.
Heute ist Mike Harris so etwas wie der Indiana Jones der kalifornischen Jeansgeschichte. Ein hundertprozentiger Autodidakt obendrein. Nie hat er, der gelernte Anstreicher, eine höhere Schule besucht. Alles, was er weiß, hat er mit eigenen Händen den Sedimenten der Geschichte entrissen oder selbst recherchiert. Seine Sammlung an historischen Denims, es müssen Tausende sein, dürfte weltweit einzigartig und ein Vermögen wert sein. 15 000 Dollar legen Kenner für eine echte Levi’s aus den 1870ern auf den Tisch. Doch um Geld geht es nicht, es geht um Präzision. 2010 hat er zusammen mit seiner Frau ein Buch veröffentlicht, das inzwischen als Standardwerk gilt unter Leuten, denen die Geschichte der Jeans am Herzen liegt. Ein zweites ist fast fertig.
Darin hat er ein paar Dinge zurechtgerückt. Dinge, die mancher als unbedeutend erachten mag, einen wie ihn aber nicht loslassen. Kam die erste »501«, die damals noch »xx« hieß, wirklich 1873 auf den Markt? (Er denkt, es war 1876.) Warum waren die Nieten oft mit Jeansstoff verblendet? (Damit sie die Sättel nicht zerkratzten.) Stundenlang kann Mike Harris über solche Dinge referieren. Darüber, wie Silberschürfer ihre Jeans immer wieder flickten, wie sie mit den Resten ihre Dampfmaschinen abdichteten oder ganze Hosenbeine in die Bohrlöcher für die Dynamitstangen stopften, um die Sprengkraft der Explosion zu erhöhen. Womit auch geklärt ist, warum Harris so selten unversehrte Funde macht.
Kann man als Denim-Archäologe seinen Lebensunterhalt verdienen? Könnte er, sagt Harris, Vater von zwei kleinen Töchtern, wenn er sich anstrengen würde, will er aber nicht. »Es würde den Spaß aus der Sache nehmen.« Dabei hat er noch viel vor. In bestimmten Minen, sagt Harris, könnte er die nächsten zwanzig Jahre verbringen. Viele sind kilometerlang. Angst vor Konkurrenz hat er nicht wirklich. Sein Vorsprung an Erfahrung ist zu groß. »Ich sehe einer Mine an, ob man dort was finden kann oder nicht. Und ich finde auch dort was, wo andere scheitern.«
Es gibt erste Versuche, seine Vintage-Jeans von kleinen Firmen nachmachen zu lassen, bis jetzt mit mäßigem Erfolg. Am Ende war er bei Preisen von 800 Dollar angelangt. Mittelfristig denkt er über Touristenführungen nach. Aber das sind nur Pläne. Mike Harris ist nicht für Trubel dieser Art gemacht. Viel lieber würde er mal der ein oder anderen Mine mit schwerem Gerät zu Leibe rücken, aber noch hat sich kein Investor gefunden. So lange packt er weiterhin Schaufel, Pickel und Helm in seinen Wohnwagen und fährt in die Wüste. Manchmal nimmt er seine Familie mit. »Es gibt nichts Schöneres«, sagt Mike Harris. »Nobody to bother you.«
Fotos: Farhad Samari