Bleiben lassen

Wenn Eltern sich trennen, werden die Kinder oft zwischen Mutter und Vater hin- und hergeschickt. Dabei gibt´s eine Alternative: Die Kinder behalten die Wohnung - und die Eltern pendeln. Funktioniert wirklich!


Seit einem Jahr sind die Schmidts kein Paar mehr. Aber Eltern sind sie noch. Und kümmern sich beide um ihre Kinder. Eine Woche sie, eine Woche er, sonntags wechseln sie sich ab. Ganz normal, eigentlich.

Doch nicht Elsa, 8, und Emma, 5, packen ihre Sachen und ziehen zwischen Vater und Mutter hin und her, sondern die Eltern pendeln. In der Vierzimmerwohnung in München-Schwabing leben die Kinder, immer. Und ein Elternteil, abwechselnd. In der »Papawoche« schläft Sascha Schmidt bei ihnen, macht Frühstück, bringt sie zur Schule, kocht, hilft bei den Hausaufgaben, liest abends vor. Am Ende dieser Woche geht der Vater, und die Mutter kommt. Juristen nennen diese Regelung »Nestmodell«, weil die Eltern sich verhalten wie Vögel, die abwechselnd zum Nest fliegen, um ihre Küken zu füttern.

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Für Eltern, die sich nach einer Trennung gleichermaßen um ihre Kinder kümmern möchten, gibt es im Grunde zwei Möglichkeiten. Die eine: Jeder nimmt eine Wohnung, die groß genug ist, dass die Kinder jede zweite Woche dort schlafen können. Und die ziehen an einem Sonntag zum Vater und am nächsten zur Mutter. In der Fachsprache heißt das: Wechselmodell. Die Kinder haben dann zwei Zimmer, zwei Paar Gummistiefel, zwei Winterjacken, zweimal das Lieblingsbuch. Damit nicht immer etwas fehlt.

Die andere Möglichkeit: das Nestmodell. Doch nach Familien, die das Nestmodell praktizieren, muss man lange suchen. Dabei ist die Idee so einfach. Und so gut. Denn die Eltern tragen die Folgen der Entscheidung, die sie als Paar getroffen haben, selbst. Warum ist es dann so unpopulär? Die einfachste Erklärung: Weil es keiner macht, weiß auch keiner davon. Eine andere Erklärung: Es ist teuer. Oder es kommt einem zumindest auf den ersten Blick so vor. Aber zwei große Wohnungen sind auch teuer. Und oft haben Familien genau das Problem: Wer bleibt in der Wohnung oder im Haus? Eine dritte Erklärung: Eltern sehen nicht, dass sie ihren Kindern ein Leben zumuten, das sie selbst nicht gern führen würden - und halten sie unwillkürlich für belastbarer als sich selbst.

Die Schmidts kamen auf das Nestmodell aufgrund ihrer Erfahrungen als Paar und Eltern. Sie waren beide voll berufstätig, als Elsa und Emma geboren wurden; Katrin Geißler-Schmidt, die Mutter, als Verlagsleiterin, Sascha Schmidt als Unternehmensberater. Sie hat nach beiden Geburten für drei Monate ausgesetzt, dann wieder gearbeitet. Die Kinderbetreuung haben sie sich geteilt. Er hat abgepumpte Milch gefüttert; sie hat die Kinder morgens zur Tagesmutter gebracht; er hat sie abgeholt; sie war mit Elsa einkaufen, er mit Emma beim Arzt. Abends haben sie zusammen am Esstisch mit ihren Kalendern gesessen und Termine abgestimmt.

Das ist so geblieben. Bereits jetzt haben die Schmidts, beide 42, bis zum Frühling 2013 festgelegt, wer in welcher Woche und an welchem Wochenende die Kinder betreuen wird. Wer mit ihnen Ostern verbringt und wer Silvester. Wer den Elternabend in der Schule übernimmt und wer im Kindergarten Kuchen backt.

Elsa und Emma gehen nach der Schule und dem Kindergarten nach Hause, einer von beiden Eltern wird da sein. Sie müssen nicht, wie viele andere Trennungskinder, darüber nachdenken, dass sie die Turnhose, die Geige, das Kuscheltier brauchen, wenn sie vom Papa zur Mama ziehen. Alles ist da, wo es immer war in der großen und hellen Münchner Wohnung, in der sie aufgewachsen sind und jede ihr Zimmer mit einem großen Pferdebild hat. Bei Emma sind es zwei Haflinger auf einer Blumenwiese, bei Elsa Fjordpferde im Schneegestöber.

Obwohl die Mädchen traurig sind, dass sich die Eltern getrennt haben, hat sich für sie ziemlich wenig verändert. Der Vater brät in seiner Woche nach wie vor Tofuwürstchen und die Mutter welche aus Fleisch.

Die Körners in Erlangen


Die Körners in Erlangen haben ein Haus gebaut. Doch als das endlich stand, war es mit der Liebe vorbei. Vielleicht, weil die Körners nie so richtig Zeit für die Romantik in ihrer Beziehung hatten. Sie waren beide 35, als sie sich im Fahrradclub kennenlernten und verliebten. Dann hatten sie es ziemlich eilig mit dem Kinderkriegen und dem Hausbau.

Nun lebt Angelika Körner allein mit beiden Söhnen im Haus. Im Garten ist ein Indianerzelt aufgebaut, Baumstämme liegen im Sand, auf dem Rasen steht ein Trampolin. Der Abenteuergarten der Körners grenzt an lauter andere Gärten, in denen auch neue Einfamilienhäuser stehen. Überall wohnen Kinder im Alter von Calvin, 11, und Lino, 9, der eigentlich Valentin heißt.

An jedem Wochenende packt Angelika Körner eine Tasche und geht zu ihrem neuen Freund. Auch Michael Körner, der allein in einer kleinen Wohnung lebt, packt dann eine Tasche. Er verbringt die Tage in seinem ehemaligen Haus, um bei seinen Kindern zu sein. Die Körners praktizieren auch eine Art Nestmodell. Sie machen zwar nicht genau halbe-halbe, ihrer Lösung liegt aber derselbe Gedanke zugrunde: Die Jungs bleiben zu Hause, können auch am Wochenende mit ihren Freunden spielen, und immer ist ein Elternteil da. Wenn die Mutter weg ist, flickt der Vater die Fahrräder, hilft Lino in Heimat- und Sachkunde, Thema Strom, und berät Calvin, von Mann zu Mann, in Kleidungsfragen.

Die Körners haben sich vor drei Jahren getrennt, nicht im Guten. Es gab Betrug, Streit, Krieg. Da ist es nicht selbstverständlich, dass sie die Nähe aushalten, die es beim Nestmodell braucht. Und über Dinge, die sie am andern ärgern, hinwegsehen. Wenn sie nicht da ist und die Kinder Festbeleuchtung machen, würde Angelika Körner sich wünschen, dass der Vater sich darum kümmert, weil sie sehr energiebewusst lebt. Oder die Katze ist nicht gefüttert, wenn sie am Sonntagabend heimkommt. »Es gibt immer Uneinigkeiten«, sagt sie. »Aber solange die Kinder uns beide brauchen, ist es halt so.«

In Deutschland wird rund jede dritte Ehe geschieden. Am kritischsten ist das sechste Ehejahr. Im Jahr 2010 waren knapp 150 000 Jungen und Mädchen von der Scheidung ihrer Eltern betroffen. Dazu kommen die Kinder, die von der Trennung ihrer unverheirateten Eltern betroffen waren und in der Statistik des Bundesamtes nicht auftauchen.

Bis vor etwa 15 Jahren wurde bei einer Scheidung das Sorgerecht auf einen Elternteil übertragen. Das war meistens die Mutter, einfach weil sie sich mehr um die Kinder gekümmert hatte. Auch bei unverheirateten Paaren fiel das Sorgerecht nach einer Trennung fast automatisch der Mutter zu. Die Väter bekamen ein Besuchs- oder Umgangsrecht. Viele verloren daraufhin den Kontakt zu ihren Kindern: weil sie nicht genug Interesse hatten, weil sie eine neue Familie gründeten oder die Mutter ihnen das Kind entzog.

Heute möchten Väter mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen. Und Mütter brauchen Entlastung, weil sie arbeiten. In den Ehen haben Mann und Frau nun das gemeinsame Sorgerecht; unverheiratete Partner verständigen sich im Falle einer Trennung auch oft darauf. Wenn sie dann tatsächlich auseinandergehen, wählen sie fast immer das Wechselmodell: Eine Woche sind die Kinder bei der Mutter, eine beim Vater. Gut für die Kinder, sagen Familiensoziologen und Psychologen, denn der verlässliche und häufige Kontakt zu beiden Eltern ist ein wichtiges Kriterium dafür, wie sie eine Trennung bewältigen.

Für ihre Langzeitstudie * begleitete die Hamburger Familiensoziologin Anneke Napp-Peters 150 Scheidungsfamilien zwölf Jahre lang. Ihre Ergebnisse: Kinder, die nach einer Scheidung keinen oder kaum Kontakt zu einem Elternteil hatten, fühlten sich abgewiesen, minderwertig und hatten später Probleme. Kinder, die gleich viel mit Mutter und Vater zu tun hatten, wurden glücklicher, lebensbejahender, stabiler.

Dem belgischen Psychologen Jan Piet de Man, der sich in Europa besonders intensiv mit Trennungskindern befasst, ist das zu pauschal. Wichtig sei vor allem, dass die Eltern es schafften, friedlich miteinander umzugehen: »Konflikte der Eltern sind emotional zerstörerisch für die Kinder, besonders nach einer Trennung.« Und es gibt noch ein anderes Problem, meint de Man: Für ein einjähriges Kind vergeht Zeit viel langsamer als für ein siebenjähriges. Es verkraftet nur eine Trennung von einem Tag, ohne dass es mit einem Elternteil fremdelt, nach einer Woche hat es ihn fast vergessen. Ein siebenjähriges Kind fremdelt erst nach sieben Tagen. Ein dreijähriges Kind, das im Wechselmodell lebt, müsste also alle drei Tage umziehen, ein vierjähriges alle vier Tage.

Die Verunsicherung der Kinder wächst noch, wenn sich ihr Wohnort ständig ändert. Denn ein kleines Kind fürchtet, dass seine Spielsachen oder sein Kuscheltier nicht mehr da sind, wo sie hingehören, wenn es länger weg ist. Oder dass der Papa plötzlich nicht mehr da ist, wo er hingehört.

Es regt sich also Kritik am Wechselmodell: Weil es von den Kindern, die mit ihren Köfferchen hin- und herziehen, sehr viel Anpassung verlangt; weil sie zum Beispiel dem Vater nichts vom neuen Freund der Mutter erzählen dürfen und der Mutter nichts von den schönen neuen Zimmern beim Vater; weil es manchmal mehr um Gerechtigkeit zwischen den Eltern geht als um das Beste für die Kinder; weil man, wenn beide Eltern gleich viel Kind fordern, auch vom geteilten Kind sprechen kann.

* Anneke Napp-Peters, Familien nach der Scheidung, Kunstmann

Die Körners in Erlangen

** Empfehlung des Psychologen Jan Piet de Man, auf der Basis empirischer Forschung von u.a. Joan Kelly und Michael Lamb.
*** Der Vater steht für den Elternteil, der nicht Beziehungsperson Nummer 1 ist.

Emma und Elsa Schmidt aus München haben Schürzen umgebunden. Emma wird morgen sechs Jahre alt, die Mädchen und ihr Vater warten auf die Mutter, die mit dem 17.30-Uhr-Flug aus Leipzig kommt. Sie hat versprochen, am Abend mit den beiden den Geburtstagskuchen zu backen. Den Osterstrauß in der Bodenvase haben die Schwestern selbst geschmückt. Sie knabbern an einer Pizza, die der Vater in den Ofen geschoben hatte. Gemütlich und warm ist es im Nest.
Wenn die Mutter kommt, sitzen die vier noch eine Weile am Tisch. Sascha Schmidt fasst zusammen, was es zu berichten gibt, dann geht er in seine Wohnung, 160 Meter entfernt, zwei Zimmer, Hinterhof. Am nächsten Morgen um sechs wird er wieder da sein, um mit seiner Frau Emma aufzuwecken. An Elsas Geburtstag war es auch so. Und es war ihr sehr wichtig.

Katrin Geißler-Schmidt hat keine andere Wohnung. Sie ist beruflich viel unterwegs und plant so, dass die Dienstreisen in die »Papawochen« fallen. Sie ist schon immer so viel gereist, aber vor der Trennung hat sie alles darangesetzt, abends noch zurückzufliegen, um Zeit mit der Familie zu haben. Jetzt geht sie dort ins Hotel, wo sie dienstlich gerade ist, während Sascha Schmidt sich das Schlafsofa in Emmas Zimmer auszieht.

Ein Jahr sind die Schmidts jetzt getrennt, gerade haben sie die Scheidung eingereicht. Das sagen sie so, vor den Kindern. Katrin Geißler-Schmidt findet, sie sollen wissen, woran sie sind. Elsa und Emma waren nach der Trennung ziemlich durch den Wind, sagt sie. Die Eltern haben mit ihnen geredet, Klartext. Jetzt haben die Mädchen sich beruhigt. Sie wissen, dass sie nicht schuld sind am Auseinandergehen der Eltern. Und dass die sich nur als Mann und Frau getrennt haben, nicht als Eltern, ihretwegen.

Die Schmidts waren Freunde, bevor sie sich verliebten, und hatten zwölf »wunderschöne Jahre« miteinander. »Wir haben uns getrennt, bevor es unschön wurde«, sagt Sascha Schmidt. Er fragt sich manchmal: Sind wir zu pragmatisch? Aber wenn er auf seine Töchter guckt, ist er erleichtert. Er weiß, wie es ist, wenn ein Kind den Vater verliert. Er ist selbst Scheidungskind, wuchs bei der Mutter auf und sah den Vater, der 700 Kilometer entfernt lebte, kaum. Seine Eltern begegneten sich nach 15 Jahren zum ersten Mal wieder, auf seiner Hochzeit. »Was für eine Anspannung«, sagt er. So etwas möchten die Schmidts ihren Kindern ersparen.

»Wann backen wir endlich den Kuchen?«, fragt Emma. Die Mutter streicht ihr übers Haar. Sascha Schmidt lächelt die beiden an. »Ich mag meine Frau«, sagt er. »Ein bisschen liebt ihr euch auch noch, sonst könntet ihr euch nicht mögen«, ruft Emma.

Als die Körners sich trennten, war nichts mehr schön. Anfang 2007, mitten in der großen Krise nach dem Hausbau, gestand Michael Körner seiner Frau, dass eine andere Frau ein Kind von ihm bekam. Schwer zu begreifen für Angelika Körner. Gerade erst waren sie in einer Eheberatung gewesen, um zu retten, was zu retten sein könnte. Sie fühlte sich doppelt betrogen, es war wie eine Wiederholung für sie: Als sie sieben Jahre alt war, wurde ihre Mutter von einem Angestellten des Vaters schwanger und verließ die Familie. Die Eltern sprachen nie wieder ein Wort miteinander. Angelika Körner wuchs mit den beiden Geschwistern beim Vater auf - das Elternhaus mit dem wilden Garten drum herum wurde ihr Rettungsanker.

Und nun war ihre Ehe am Ende. Ihr erster Gedanke war, den Kindern das Haus zu erhalten. Aber wer würde mit ihnen dort wohnen bleiben? Es gab Streit, richtig Streit. Anwaltsschreiben gingen hin und her, immer unversöhnlicher im Ton. »Das war die Hölle. Man soll nicht meinen, dass so was noch mal gut werden kann«, sagt Angelika Körner.

Aber es wurde wieder gut. Der Scheidungsrichter entschied, dass die Mutter, die auch als Tagesmutter im Haus arbeitet, mit den Kindern dort bleiben sollte. Das Jugendamt bot dem zerstrittenen Paar eine Mediation an: eine freiwillige außergerichtliche Form der Konfliktlösung durch einen Dritten, einen Streitschlichter. In acht Sitzungen schafften die Körners es, sich gegenseitig zuzuhören, nach gemeinsamen Lösungen zu suchen, endlich Frieden zu schließen. Die Mediatorin brachte sie auch auf die Idee, dass Michael Körner ins Haus zu den Kindern kam.

Den Körners kommt das Nestmodell entgegen. Die Vorstellung, sie müsste jedes Wochenende die Taschen für Calvin und Lino packen, mit Schuhen und Hosen und Fußballsachen für eine Woche, findet Angelika Körner absurd. »Meinen Kram zu packen ist halb so wild«, sagt sie. »Und ich find’s toll. Denn wenn ich weg bin, kann ich machen, was ich will.« Das Nestmodell verschafft ihr Freiheiten, die sie sonst nicht hätte. Sie kann zum Beispiel zu ihrem neuen Freund gehen, ohne die Kinder damit zu belasten.

Sascha Schmidt in München wird oft gefragt, ob er sich eine neue Familie wünscht. Er sagt dann, er wünsche sich eine neue Liebe – aber eine Familie hat er ja. Sascha Schmidt kennt viele getrennte Männer, deren größter Wunsch es ist, gleich wieder eine Familie zu gründen. Es sind Väter, die ihre Kinder kaum sehen.

Katrin Geißler-Schmidt wird nie gefragt, ob sie sich eine neue Familie wünscht. Alle denken, sie hat ja eine. »Wenn’s mal einen anderen Mann gibt, zieht man vielleicht zusammen«, sagt sie, »aber nicht in dieser Wohnung.«

Bis zur Pubertät der Kinder, das haben sich die Schmidts vorgenommen, soll das andere Privatleben woanders stattfinden und nur das Familienleben im Nest. Denn sie werden, sagen sie, ein Leben lang als Eltern ihrer Kinder verbunden sein. Und vielleicht sogar noch als Großeltern ihrer Enkel.

Fotos: Toby Binder Redaktionelle Mitarbeit: Karoline Amon