Matratzen zum Beispiel. Als normaler Mensch macht man sich keine Vorstellung davon, wie viele Matratzen ständig ausrangiert werden: größeres Bett, weil das Kind gewachsen ist. Schmaleres Bett, weil eine nur noch halb belegte King Size auf Dauer demütigend ist. Teureres Bett, weil man den Bandscheiben endlich etwas Gutes tun will.
Claudia Schiffer kauft sich eine Jeansjacke beim New Yorker Garage Sale - und verwertet somit weiter.
In Deutschland werden jährlich 6,8 Millionen Matratzen ausgemustert, so hat es jüngst die Fachzeitschrift EU-Recycling berechnet. Und wieder einmal wird man eines Problems gewahr, von dem man keine Ahnung hatte, dass es überhaupt existiert. Bei einer Schlafunterlage kommt es ja nicht wirklich darauf an, ob man sie im Keller alt werden lässt, auf dem Gehsteig vor der Haustür deponiert (in Berlin ist so ein Müll-Sharing nicht ungewöhnlich) oder ordnungsgemäß von der Stadtreinigung abholen lässt. Bei fast sieben Millionen Matratzen aber gerät man ins Grübeln, es sei denn, man hat sich die Laisser-faire-Wurschtigkeit noch nicht abgewöhnt, mit der der moderne Mensch lange ökologische und ökonomische Imperative ignoriert hat. Schließlich könnte man all den schönen Schaumstoff wiederverwerten. Doch Matratzenrecycling ist ein zähes Geschäft. Es gibt zu wenige Maschinen, die das vollautomatisch erledigen könnten, außerdem schmälert die notwendige Entkeimung die Erlöse. Deswegen werden Matratzen meist doch nur von ihren metallischen Bestandteilen befreit und anschließend thermisch verwertet, also verfeuert.
Insgesamt fallen in Deutschland jährlich um die 2,4 Millionen Tonnen Sperrmüll an, zu denen jeder statistische Einwohner mit 29 Kilo beiträgt. Dabei handelt es sich allerdings nur um den Krempel, der von den offiziellen Entsorgungs- und Verwertungskreisläufen erfasst wird. Wahrscheinlich lagert mindestens ebenso viel Sperrmüll in Kellern und auf Dachböden, in Schuppen und Garagen. Von dem, was man nicht mehr braucht, trennt man sich bekanntlich oft erst, wenn die eigenen Stauräume zu eng geworden sind. Erst wenn man nicht mehr in den Keller kann oder umzieht, nimmt man die Chance wahr und schaut nach, wann die nächste Sperrmüllabholung stattfindet - um dann an den Formalitäten zu verzweifeln: So will die Hamburger Stadtreinigung vor Auftragserteilung haargenau wissen, wie viele Bilderrahmen, Bügelbretter oder Hollywoodschaukeln man loswerden möchte. Aber woher soll man das eigentlich so genau wissen? Man hat da jahrelang obendraufgeschlichtet, bis es nicht mehr ging, und jetzt kommt man nicht mehr durch das Chaos.
Die Schwierigkeiten beginnen damit, dass man oft nicht genau weiß, was zum Sperrmüll gehört und was nicht. Der ursprünglichen Definition zufolge handelte es sich mal um jenen Anteil an den Haushaltsabfällen, der sich beim besten Willen nicht mehr in eine Mülltonne quetschen ließ. Aber das ist eine Formel aus einer Epoche, in der man sich noch keine Gedanken über Rohstoffknappheit und Umweltverschmutzung machen musste. Das hat sich gründlich geändert. Elektrogeräte, Kühlschränke, übrig gebliebene Farbeimer von der Wohnungsrenovierung gelten mittlerweile als eigene Abfallarten und müssen gesondert entsorgt werden. Irgendwann wird die mentale Müllsortierungsanlage so fein kalibriert sein, dass man für jeden Gegenstand, den man loswerden will, einen eigenen Spezialentsorgungsdienst wird anrufen müssen. Vielleicht wird uns dann endlich bewusst, dass eine Wegwerfökonomie doch kein bequemes Gesellschaftsmodell ist.
Theoriebücher in Obstkisten
Wenn man sich eine abgründigere Sicht auf die Dinge gestattet, fällt einem vielleicht auf, dass wir im Sperrmüll leben, man hat es sich bloß noch nicht eingestanden. Doch in drei, fünf, zehn Jahren werden wir uns auch von den Tischen, Kommoden, Spiegeloberschränken trennen, mit denen wir uns jetzt noch wohlfühlen. Weil unser Geschmack über sie hinauswächst, weil sich die Lebensumstände verändern, weil wir ihren Anblick nicht mehr ertragen können, weil sie uns unter dem Hintern zusammenbrechen werden. Bis vor ein paar Generationen hat man sich Einrichtungen noch für ein Leben lang angeschafft, heute gerät niemand mehr in die Verlegenheit, Entscheidungen für immer treffen zu müssen. Und wenn man, oft erst im sechsten, siebten Lebensjahrzehnt, die Sitzlandschaft erben soll, in der es sich die Eltern gemütlich gemacht haben, pickt man sich aus Sentimentalität ein oder zwei Erinnerungsstücke heraus, der Rest kommt, auch wenn es einem das Herz dabei abdrückt, auf den Wertstoffhof.
Wenn aber die Verbraucher auf lange Haltbarkeit kaum noch Wert legen, dann müssen es die Produzenten auch nicht. Den Selbstbaumöbeln, in denen wir uns einrichten (nicht nur, weil sie günstig sind, sondern oft auch, weil wir nicht vorhaben, uns emotional darauf einzulassen, also Wurzeln zu schlagen), merkt man das schon bei der Montage an. Ein Spanplattenregal ist, schon während es noch in Gebrauch steht, Sperrmüll, er hat nur noch nicht zu seiner endgültigen Form gefunden. Sobald man die Wohnung wechselt oder beschließt, dass man mit einem »Kindle« ohnehin keine Bücherregale mehr benötigt, reicht es, einmal heftig dagegenzutreten, und das Ding zerfällt in jene Einzelteile, die man einst schwitzend zusammengeschraubt hat.
Wahrscheinlich wäre es ethisch korrekter und ökologisch vernünftiger, anders zu leben. Sich mit Dingen zu umgeben, die einem ganzen Leben und nicht nur einem Lifestyle standhalten, die in der Wohnung eines 20-Jährigen ebenso gut aussehen wie in der eines 70-Jährigen. Dass so etwas möglich ist, beweisen ja Shaker-Möbel oder die Mid-Century-Klassiker von George Nelson oder dem Ehepaar Eames. Im Unterschied zu elektronischen Geräten, bei denen der technische Fortschritt dazu zwingt, sich alle paar Jahre einen neuen Rechner oder ein neues Smartphone anzuschaffen, müssen perfekte Möbel nicht mehr erfunden werden. Es gibt sie bereits, und man könnte sie so produzieren, dass man sie bis ans Ende seiner Tage nicht mehr wegwerfen muss. Doch so denken weder Hersteller noch Kunden, sie mögen Nachhaltigkeit und Klimaschutz noch so glühend beschwören. Die Vorstellung, dass Möbelhaus-Kataloge von 2012 dasselbe Angebot enthalten wie die von 1990, würde sowohl Hersteller als auch die Verbraucher unbefriedigt zurück-lassen, und selbst ein Unternehmen wie Manufactum, mit seiner Mission, die materialisierten platonischen Ideen der Dingwelt anzubieten, schraubt ständig an seinem Sortiment herum. Hin und wieder wollen wir unser Leben umdekorieren, sonst fühlt es sich an, als wäre man in eine Gefängniszelle geraten.
Die unvermeidliche Folge: immer mehr Sperrmüll. Wenigstens gehen wir inzwischen vernünftiger mit ihm um. Bis vor einigen Jahrzehnten wollten wir ihn einfach nur loswerden. Wir haben ihn auf die Straße gestellt und fanden nichts daran, wenn fremde Menschen noch eine Verwendung zweiter Hand für ihn fanden. Über die Generation der 68er zum Beispiel wurde immer wieder konstatiert, sie statte sich mit Möbeln vom Sperrmüll aus. Dass die Studenten, die den Muff unter den Talaren verjagen wollten, sich im Muff anderer einrichteten, war akzeptierter Brauch, der ihnen unter ihresgleichen nicht schadete. Im Gegenteil: Wer seine Theoriebücher in Obstkisten aufbewahrte und auf von der Straße gepflückten Ohrensesseln diskutierte, galt als jemand, der sich vom kapitalistischen Konsumismus nicht manipulieren ließ. Die Stadtreinigungen störten sich nicht an der privaten Aneignung aus den Sperrmüllhaufen: Das verringerte die Arbeit für die Müllwerker.
Was den Kapitalismus und seine Kritiker verbindet
Mittlerweile wird Selbstbedienung nicht mehr so umstandslos geduldet. Erstaunlich viele Gerichtsurteile schreiben fest, dass jene, die sich von ihrem Krempel trennen, zwar auf ihr Eigentum an ihm verzichten, dieser Umstand aber nie und nimmer das Recht begründet, sich das herrenlos gewordene Eigentum anzueignen. Es soll den Kommunen, nicht Privatpersonen gehören. Begründet wird das unter anderem mit dem Argument, dass nicht sachgerecht entsorgter und zerlegter Sperrmüll möglicherweise zum Umweltrisiko werden oder eine Gefährdung für die Gesundheit sein könnte.
Dass der Sperrmüll am Straßenrand der Müllabfuhr und niemandem sonst gehört, richtet sich vor allem gegen jene illegalen Verwerter, die sich in grenznahen Regionen aus den Abfallbergen bedienen und auf ihre Laster laden, was weiterverkäuflich erscheint. Mit diesem grenzüberschreitenden Sperrmüllklau beschäftigt sich das von der Europäischen Union geförderte Forschungsprojekt »TransWaste«. Seinen Berichten kann man entnehmen, dass Händler aus dem polnischen Niederschlesien jährlich geschätzte 74 400 Tonnen Sperrmüll im benachbarten Sachsen einsammeln oder dass erstaunlich viele Ungarn davon existieren, in Ost-Österreich Müll einzusacken und in ihre Dörfer abzutransportieren, um ihn dort wieder aufzuarbeiten. Schätzungen zufolge landen bis zu 15 Prozent des Haushaltssperrmülls bei solchen informellen Händlern. Den Gemeinden entgehen dadurch Millionen.
Ohnehin gilt: Der Abfall der Reichen ist für arme Schlucker anderswo eine Chance. Weggeworfene Elektronikgeräte werden durch die halbe Welt transportiert, um zum Beispiel in Ghana auf riesigen Mülldeponien unter elenden Arbeitsbedingungen ausgeschlachtet zu werden. Handys und Laptops zerlegt man per Hand, um an die Metalle im Inneren zu gelangen, Kabel verbrennt man, um aus ihnen Kupfer zu gewinnen, das auf den lokalen Märkten ein paar Cent einbringt. Es geht dabei um dieselben Stoffe, für die sich auch das sogenannte Urban Mining interessiert – jene ökologische Denkschule, die propagiert, dass es sich bei knapper werdenden Ressourcen lohnen könnte, alles, was nicht mehr gebraucht wird, wiederzugewinnen und erneut in die Produktion einzuspeisen.
Noch erscheint Sperrmüll als nicht besonders lukrativ. Er besteht je nach Analysemethode zwischen 40 und 60 Prozent aus Holz, der Rest sind Kunststoffe, Textilien, unglamouröse metallische Anteile, alles keine Kostbarkeiten. Die Wertstoffe, die man aus ihm gewinnen kann, sind nicht so begehrt, dass sie die aufwendigen Sortier- und Recycling-Prozeduren finanzieren könnten, also landet das meiste immer noch in der Verbrennung. Aktuell liegt die Wiederverwertungsquote von Sperrmüll bei etwa 35 Prozent, doch sie wird sich in den kommenden Jahrzehnten erhöhen. Schließlich sind sich der Kapitalismus und seine Kritiker in nichts einiger als in der Überzeugung, dass alles, was verwertet werden kann, auch verwertet werden soll, für die einen aus ökonomischen, für die anderen aus ökologischen Erwägungen. Es ist einfach vernünftiger, alles, was der Mensch an Abfällen produziert, nicht endgültig verloren zu geben. Wenn sich der Gebrauch eines Dings erledigt hat, konfiguriert man seine Moleküle neu und macht ein anderes Ding daraus.
Hin und wieder können einen solche Nachhaltigkeitsutopien aber auch erschrecken. Will man nicht manchmal auch, dass etwas ganz und gar vernichtet wird – statt immerzu wiederverwertet? Hat man nicht manchmal das emotionale Recht, den Plunder, in dem man gelebt hat, kurz und klein zu treten, im Wissen, dass kein anderer sich aus ihm bedient und sein eigenes Leben mit ihm möbliert? Ist das Wegschmeißen und Loswerden, auch wenn es unvernünftig ist, nicht ein Vergnügen eigener Art?
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