Es gibt ein paar Witze, mit denen sich die jüdische Oberschicht Amerikas Luft macht von dem Druck, ihre politische Treue gegenüber Israel beweisen zu müssen. Einen dieser Witze erzählt der Journalist Thomas Friedman: Der sehr religiöse Samuel Goldberg möchte in der Lotterie gewinnen. Jeden Sabbat betet er in der Synagoge: »Herr, ich bin mein Leben lang ein gottesfürchtiger Jude gewesen, kann ich nicht mal in der Lotterie gewinnen?« So geht das über Monate. Goldberg betet immer wieder und hadert: »Herr, was muss ich tun, damit ich endlich gewinne?« Da öffnet sich der Himmel, und hörbar genervt ertönt Gottes Stimme: »Goldberg, halt die Luft an und kauf endlich mal ein Los!«
Friedman erzählt diesen Witz, weil er ihn an das Verhalten von Israelis und Palästinensern erinnert. Beide Seiten fordern und hadern und klagen. Aber keine ist zu einem Zugeständnis bereit, keine will ein Opfer bringen. So war es in all den Jahren seit dem Sechstagekrieg 1967 und selbst in den Jahrzehnten davor. Die Geschichte des Landstreifens Palästina ist voller unerfüllter Versprechungen und zerstörter Hoffnungen. In dem teuflischen Dreiecksverhältnis aus religiösen, ethnischen und staatlichen Identitäten gärt ein schier unlösbarer Konflikt, der seine Ursachen lang vor der israelischen Staatsgründung 1948 hat.
Israel und die Palästinenser – das ist ein inzwischen auf die Chiffre Nahostkonflikt zusammengeschrumpftes Beziehungsdrama, dessen globale Bedeutung sich nicht erklären will, wenn man bedenkt, dass in den betroffenen Gebieten nur 5,4 Millionen Juden und 5,2 Millionen Araber leben. Gemessen an anderen Konflikten auf der Welt sind das sehr wenige Menschen. Aber ihr Streit ist so symbolgeladen, so grundsätzlich und so infektiös für andere, dass keine Macht der Welt ihm entkommen kann. Diese Erfahrung hat zuletzt George W. Bush gemacht, der den kleinen Regionalkonflikt ignorieren wollte und einem viel größeren Problem unterordnete. Aber der Nahostkonflikt will nicht weichen, selbst wenn man ihn aufbläst zu einer gewaltigen Auseinandersetzung des Westens mit der islamischen Welt, zumindest ihrem radikalen Teil. Deshalb gilt für jeden US-Präsidenten die Regel: Wenn du nicht zum Konflikt gehst, kommt er zu dir. Denn ungeachtet aller Aussichtslosigkeit und Frustration wird lediglich den USA die Fähigkeit zugetraut, den Konflikt zu beenden, die Hoffnungen der Vertriebenen und der Siedler zu erfüllen, Sicherheit zu garantieren und Vertrauen zu stiften.
Nun also Barack Obama: der Mann, der schon vor Beginn seiner Präsidentschaft mit Erwartungen beladen wurde. Er verdankt seinen kometenhaften Aufstieg und seine hohen Sympathiewerte vor allem einer rhetorischen Begabung, wie sie nur selten anzutreffen ist. Seine Reden sind klar, simpel und ausgewogen. Er benennt Probleme ohne Umschweife, fordert und gibt, zeigt Verständnis für Gefühle, ohne weich zu wirken. Was er sagt, erzeugt einen hohen Grad an Konsens – so auch mit der großen Rede am 4. Juni an der Al-Azhar-Universität in Kairo.
Diese Rede wird noch in Jahren als ein Meisterwerk angesehen werden. Mit ihr unternahm Barack Obama den Versuch, ein über acht Jahre gefestigtes Bild von Amerika in der arabischen Welt aufzubrechen. Er gab den USA Glaubwürdigkeit zurück, indem er das Land als demutsvoll und selbstkritisch zeichnete. Der Triumphalismus der Bush-Jahre war verflogen, Obama machte Amerika klein, damit es wieder vorbildlich sein kann. Manche Kommentatoren verglichen die poetische Kraft in Obamas Worten mit den Aussagen Osama bin Ladens. Das Ergebnis: Bin Ladens Rhetorik ist mittelalterlich und zerstörerisch, Obama spricht von Konsens, Respekt und Toleranz.
Die Rede hatte einen schnellen Effekt: Amerika und die Politik der Regierung waren nicht länger eine ausreichende Rechtfertigung für den Terror der Dschihadisten. Obama zitierte die drei Weltregionen, schilderte seine Lebenserfahrung unter Muslimen in Djakarta, erzählte aus dem Koran die Isra-Legende von Mohammed, der auf seiner Reise zu Allah mit Abraham, Moses und Jesus betet – die Propheten vereint im Gebet. »Frieden sei mit ihnen«, rief Obama in Anlehnung an die Beschwörungsformeln der Weltreligionen. Nie hat ein amerikanischer Präsident die arabischen Massen gefühlvoller angesprochen.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Sollte der US-Präsident die Widerstandsbewegung im Iran gar gefördert haben, als er das Regime umgarnte?)
Sofort wurde die Rede Obamas in Kairo mit der Rede Ronald Reagans vor dem Brandenburger Tor verglichen: Zwei Jahre vor dem Fall der Mauer hatte der damalige US-Präsident seinen flammenden Appell an den sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow gehalten und ihn beschworen, die Mauer niederzureißen. In Amerika wird diese Rede gern als Initialzündung für die Freiheits- und Revolutionsbewegung 1989 genommen.
Deswegen war es nicht verwunderlich, als nach Ausbruch der Unruhen im Iran das Obama-Lager sogleich aufmerkte: Sollte der US-Präsident die Widerstandsbewegung gar gefördert haben, als er das Regime umgarnte? Der amerikanische Satan, der lange Zeit für jede Opposition und Bosheit im Iran verantwortlich gemacht wurde, streckte nun die Hand aus und überwältigte das persische Volk mit Freundschaftsgesten. Und plötzlich hat die Opposition die Freiheit, gegen die Arbeit von Präsident Ahmadinedschad und die Repression seines Regimes aufzubegehren. Amerika als Sündenbock verfängt nicht mehr.
Obamas Atem war auch im wichtigsten Widerlager der Krisenregion zu spüren: in Israel. Auch da hatte das Volk gerade gewählt und den USA mit der konservativen Koalition unter Benjamin Netanjahu einen ungewohnt widerborstigen Verbündeten im Nahen Osten beschert. Israel, das sich immer der Unterstützung aus den USA sicher sein konnte, verweigerte sich nun den wichtigsten Prinzipien des gemeinsam vereinbarten Friedensprozesses. Besonders zwei Elemente rückten ins Zentrum des amerikanisch-israelischen Streits: Zu welchen Konditionen wird die Regierung Netanjahu Palästina als eigenständigen Staat anerkennen; und wann stoppt die Regierung den geradezu fanatisch betriebenen Ausbau der Siedlungen weit in das palästinensisch kontrollierte Gebiet hinein?
Die offenkundige Friedensunwilligkeit der Regierung Netanjahu führte schon bei den ersten Begegnungen der neuen Regierung mit den Vertretern Obamas zu scharfen Auseinandersetzungen – und in Washington wuchs ein Unmut, wie ihn Israel in Jahrzehnten nicht erlebt hatte. Überall in der Region ist nach dem Ende von Präsident Bush die Bereitschaft zur Veränderung zu spüren. Die arabischen Staaten warten auf den Moment der Öffnung, die bleierne Zeit seit dem 11. September 2001 hat den Hunger nach Veränderung geweckt.
Wenn ein Fortschritt im Kernkonflikt zwischen Israelis und Palästinensern also nicht möglich ist, bleibt der Umweg über die Peripherie, über Syrien etwa. Die Konzessionsbereitschaft der USA eröffnet völlig neue Optionen für Präsident Baschar al-Assad in Damaskus, der schon lange nach einem Weg aus der iranischen Umklammerung sucht. Eine Chance bot sich nach den Parlamentswahlen im Libanon, bei denen Syrien entgegen früherer Gewohnheit weitgehend auf Einflussnahme verzichtete. So konnten die gemäßigten, prowestlichen Fraktionen eine Mehrheit erlangen. Vier Jahre nach dem Abzug des Botschafters (als Reaktion auf die offensichtlich aus Syrien gesteuerte Ermordung des früheren libanesischen Ministerpräsidenten Hariri) entsandten die USA wieder einen Vertreter nach Syrien. Saudi-Arabien ist diesem Beispiel inzwischen gefolgt.
Der Wille, die iranische Dominanz zu brechen und ein Signal gegen die kraftmeiernde Rhetorik aus Teheran zu setzen, gärt überall im Nahen Osten. Sechs Jahre nach dem amerikanischen Einmarsch im Irak suchen die Staaten nach neuer Orientierung im Umgang miteinander. Die Freiheits- und Demokratie-Agenda George Bushs ist verblasst, der Irak feiert den Abzug der US-Truppen aus den Städten wie den Sieg über eine feindliche Armee. Und die reichen Golfstaaten erkennen im Schock der Finanzkrise und wild schwankender Rohstoffpreise, dass auch ihr Wohlstandsmodell von Verlässlichkeit und Stabilität im Westen abhängt.
Dennoch bleibt die Lage im Nahen Osten vor allem deshalb explosiv, weil ein unberechenbares Regime im Iran weiter nach regionaler Vorherrschaft strebt. Das Nuklearprogramm ist das Vehikel dieses Machtanspruches – und zugleich die wirksamste Waffe, die empfundene Isolation durch die USA auszugleichen und mehr Bedeutung und Einfluss in der Region zu gewinnen.
Drei Jahrzehnte lang haben die USA versucht, den Iran zu isolieren und das Mullah-Regime zu schwächen. Jetzt offenbarten Hunderttausende Demonstranten die innere Zerrissenheit des Iran, sehr zur Freude übrigens des sunnitischen Teils der arabischen Welt: Dort schaut man still triumphierend auf das Demokratieschauspiel beim gerade noch gefürchteten Nachbarn.
Im Iran, nicht in Israel, entscheidet sich also das Schicksal der Region: Israel begründet seine sture Haltung vor allem mit der Entwicklung im Iran. Obama, der in Kairo schwor, keinen Einfluss auf die innere Verfasstheit eines Staates nehmen zu wollen, zeigt sich als Pragmatiker: Alle Themen, auch die Menschenrechtsverstöße des Regimes, ordnet er dem strategischen Ziel unter, die iranische Bombe zu verhindern. Sie könnte einen nuklearen Rüstungswettlauf von der Türkei bis Saudi-Arabien auslösen, der nicht nur die Region erschüttern würde, sondern die ganze Welt. Iran soll in einen politischen Dialog eingebunden werden, nicht zuletzt weil Washington die Unterstützung aus Teheran braucht, wenn es sein zweites gewaltiges Krisengebiet in Afghanistan und Pakistan in den Griff bekommen möchte.
Im Iran liegt er, der Schlüssel zu allen Problemen der Region. Irans politische Elite taktiert geschickt, sie wird aber spüren, dass ihr in Obama ein gewiefter Herausforderer gegenübertritt. Er wird sie umarmen und zu erdrücken versuchen mit der Klarheit und Offenheit seiner Argumente. Doch was, wenn Worte wenig nutzen? Obama, der bisher als Redner überzeugte, hat noch keine wirklich harten Entscheidungen treffen müssen. Was wird er tun, wenn seine Beschwörungen nicht reichen: Sanktionen, Lockungen, doch ein Bombardement der Nuklearanlagen?
Noch vertraut Obama auf sein Wort. Wie als Warnung sprach er in Kairo zu den Regimen der Region: »Ich habe den unbeugsamen Glauben, dass sich alle Menschen nach gewissen Dingen sehnen: der Chance, die eigene Meinung zu sagen, und mitzureden, wie man regiert wird; Vertrauen in den Rechtsstaat und die Gleichheit vor dem Gesetz; Regierungen, die offen sind und die Menschen nicht bestehlen; die Freiheit, so zu leben, wie man es möchte.« Als hätte er den Aufruhr auf Teherans Straßen vorhergesehen, sagte er: »Regierungen, die diese Rechte schützen, sind am Ende stabiler, erfolgreicher und sicherer. Die Unterdrückung von Ideen führt nicht dazu, dass sie verschwinden.«
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