Seit langer Zeit mal wieder im Journal of Pain, dem Mitteilungsblatt der amerikanischen Schmerzgesellschaft (American Pain Society) blätternd, entdeckte ich eine Studie der Universität Singapur. Es ging um die Frage, wie lange Menschen einen bestimmten Schmerz aushalten können und was ihnen möglicherweise dabei hilft, ihn länger zu ertragen als andere.
Interessanterweise klingt ja der Ausruf »Au!« oder »Autsch!« in vielen Sprachen ähnlich. Ow oder ouch sagt der Amerikaner, ahi der Italiener, aiyo der Chinese, ai der Russe. Das legt nahe, dass es bei diesem Laut nicht nur um eine Mitteilung an andere Menschen geht: Helft mir! Oder: Passt auf, das tut weh!
Sondern es könnte sein, dass »Au!« oder »Ow!« zu schreien dem Au!- oder Ow!-Schreienden selbst hilft. Dass also ein Den-Schmerz-Hinausbrüllen jemanden vom Schmerz befreit, jedenfalls ein bisschen, weil nämlich genau jene spezifischen Muskelbewegungen, die zum Ruf »Au!« oder »Ow!« notwendig sind, auf subtile, innere und bisher nicht zu erklärende Weise den Schmerznerv beruhigen.
Um das herauszubekommen, hießen die singapurischen Forscher 56 Menschen, eine Hand in extrem kaltes Wasser zu tauchen. Für die Beteiligten gab es nun folgende Möglichkeiten: »Au!« zu sagen; ein Tonband mit ihrer eigenen Stimme – »Au!« sagend – zu hören; einer Aufnahme mit einer fremden, »Au!« sagenden Stimme zu lauschen; alles schweigend zu ertragen; oder einen Knopf zu drücken.
Es zeigte sich: Jene, die »Au!« riefen, konnten den Schmerz weit länger aushalten als alle anderen – ausgenommen offenbar solche, die den Knopf drückten (der, wenn ich alles recht verstehe, nichts bewirkte und nichts anderes war als eben ein Knopf).
Was einerseits zu der Frage führt, ob wir nicht alle und für alle Fälle immer einen Button in der Tasche haben sollten, ja, ob es nicht eine tiefe, dem Menschen vom Schöpfer eingepflanzte Sehnsucht nach Knopfbesitz und Knopfbenutzung gibt: Wäre es nicht schön, jeder von uns könnte jederzeit die eigenen ächzenden Nerven mit leichtem Druck auf einen mobilen Knopf lindern?
Andererseits sehen wir: Schmerz verlangt nach Ausdruck. (»Au!« ist dafür perfekt geeignet, man muss nur den Mund aufreißen, die Zunge liegt flach am Boden, die Lippen haben kaum zu tun – eine simple und effektive Gesichts-Aktivität bei maximalem Output.) Der Ausdruck wiederum lindert den Schmerz: eine Art Verbalaspirin und eine Angelegenheit, die Frauen bedenken sollten, die ihre Männer belächeln oder kritisieren, weil die angeblich schon geringfügige Schmerzen lauthals beklagen. Dabei sind diese doch nur beschäftigt, dem Finanzdruck im Gesundheitswesen sowie dem allgemeinen pharmazeutischen Wahnsinn durch kostenlose Selbstbetäubung zu begegnen.
Das große Thema »Eigenkörperbeeinflussung durch Sprache« kann hier nur angerissen werden. Stimuliert die von manchen Menschen täglich mehrmals gestellte Frage »Hast du mein Handy gesehen?« das eigene Gedächtnis? Wirkt Fluchen wutreduzierend, oder flucht man sich im Gegenteil in immer größeren Zorn hinein?
Stellvertretend sei auf einen Großversuch mit ebenfalls 56 Teilnehmern in mehr als 57 deutschen Kantinen verwiesen: Hier wurde das Verdauungsgeschehen von Menschen untersucht, die vor dem Mittagessen entweder »Mahlzeit!« sagten oder zu denen »Mahlzeit!« gesagt wurde oder denen das eigene »Mahlzeit!« von einem Tonband vorgespielt wurde. Oder die das Essen schweigend ertrugen.
Eine weitere Möglichkeit war, anstatt zu essen bloß einen nichts-als-Knopf-seienden Knopf zu drücken. Oder nicht »Mahlzeit!« zu sagen, sondern »Kau!« Oder einen Knopf zu drücken, mit dem das Essen eines beliebigen Kollegen auf dessen Teller in die Luft gejagt wurde.
Die Ergebnisse sind noch nicht ausgewertet. Sie werden derzeit von Fachleuten des Journal of Vain, dem offiziellen Blatt der amerikanischen Nutzlosigkeitsgesellschaft, in extrem kaltes Wasser gehalten.
Illustration: Dirk Schmidt