Es naht eine Leichtathletik-Weltmeisterschaft. Sie wird in Doha, der Hauptstadt Katars, stattfinden, was Quatsch ist, weil es dort viel zu heiß ist für Leibesübungen und sich niemand dafür interessiert außer denen, die mit Sport und umfassenden Geldzahlungen an dessen Verbände ihr mieses Renommee polieren. Aus gleichen Gründen findet 2022 die Fußball-WM in Katar statt, wie traurig ist das denn?!
Im amerikanischen Fachblatt Science Advances war eine Studie über die Grenzen menschlicher Leistungskraft im Sport zu lesen, es ging um extremen Ausdauersport. Man erfuhr, warum der Mensch hier an Grenzen stößt, die er nicht durchbrechen kann. Sie werden ihm durch seine Verdauungsorgane gesetzt, die über längere Zeit hinweg nicht mehr als die zweieinhalbfache Kalorienmenge des normalen Ruhestoffwechsels verarbeiten können. Wäre es anders, würden Babys während einer Schwangerschaft unbegrenzt Nahrung bekommen und nach neun Monaten zehn Kilogramm oder so wiegen. Die Natur hat Ungeborenen die gleichen Grenzen gesetzt wie Top-Athleten.
Interessanterweise wird schon seit Längerem über das Ende der Rekorde in der Leichtathletik debattiert: Muss nicht der Tag kommen, an dem der Mensch an den Limits seiner Fähigkeiten angekommen ist, an dem keiner mehr die 100 Meter schneller zu laufen imstande ist, als Usain Bolt es war? Ja, natürlich, und verblüffenderweise hat Jean-François Toussaint, der Leiter eines biomedizinischen Instituts in Paris, unser Jahr 2019 als genau jenes genannt, in dem zum letzten Mal ein Weltrekord im 100-Meter-Sprint aufgestellt werde; die Schallmauer liege bei 9,726 Sekunden.
Das schrieb er 2008. Ein Jahr darauf, vor zehn Jahren, lief Bolt in Berlin 9,58. So viel zum Thema Prognosen. Man sollte sich seiner selbst nie zu sicher sein. Irgendwann kommt immer einer und tut, was er will und kann.
Trotzdem wird das Gedankenspiel erlaubt sein, was uns die Leichtathletik und etwa auch das Schwimmen bedeuten würden, wenn es keine Rekorde mehr gäbe und wir nie mehr das Gefühl erlebten, das wir bei Bob Beamons Weitsprung über 8,90 Meter 1968 in Mexiko hatten, 55 Zentimeter mehr als der bis dato gültige Weltrekord – das Empfinden also, etwas Ungeheures gesehen zu haben, das ein Einzelner vollbrachte. (Erst 1991 sprang Mike Powell 8,95 Meter.)
Was wäre der Sport ohne Rekorde?
Er wäre, zum Beispiel, vielleicht noch schön. Schönheit ist ein Begriff, der – im Fall der Leichtathletik – bedeutet, dass einzelne Bewegungsabläufe bis zur Perfektion zu studieren sind: der Lauf, der Sprung, der Wurf. Wäre das nicht interessant, wenn man aufhörte, nur Namen, Zahlen, Daten zu konsumieren und begönne, sich Bewegungen von Athleten wirklich anzuschauen?
Und der Sport wäre: Wettkampf. Wobei ich selbst angesichts der Verseuchung des Hochleistungssports durch Doping dazu übergehe, mich nur noch an der Leistung Einzelner zu freuen, die gar nicht siegen. Mir haben bei der Schwimm-WM vor Kurzem in Südkorea der Australier Mack Horton und der Brite Duncan Scott (Zweiter über 400 und Dritter über 200 Meter Freistil) sehr gefallen, weil sie sich weigerten, mit dem würdelosen Sieger Sun Yang aus China gemeinsam auch nur das Treppchen zu betreten, geschweige denn ihm zu gratulieren – wozu denn? Sun Yang wurde 2014 als Doper bestraft. Vor einem Jahr wurde bei einer Dopingkontrolle in China eine seiner Blutproben mit dem Hammer vernichtet, als einen Moment lang außer ihm und einem Wachmann niemand zugegen war. Solche sogenannten Sportler sind mir egal – warum? Weil zu den großartigsten Errungenschaften des Sports der Gedanke der Fairness zählt.
Vielleicht sollte man diese Veranstaltung in Doha boykottieren. Vielleicht sollte man sich aber auch einige ehrliche Athleten aussuchen und ihre Leistungen verfolgen und feiern. Oder man geht selbst eine Runde laufen, das kann nie schaden.