Als im Frühsommer die Fußball-Europameisterschaft im Gange war, fragte mich jemand, ob ich eigentlich für oder gegen Ronaldo sei. Es beschäftigt mich immer noch, dass ich mich auf die Frage einließ und etwas von »eher dagegen« murmelte. Als ob es von irgendeinem Belang wäre, wie ich Ronaldo finde! Als ob es nicht viel wichtiger wäre, gerade keine Meinung zu Ronaldo zu haben, sondern ihn (oder das Phänomen, das wir Ronaldo zu nennen uns angewöhnt haben, denn von dem Menschen werden wir kaum je wirklich etwas wissen) stattdessen erst mal meinungslos, aber mit Interesse zu betrachten! Dieses einerseits maßlos Eitle zum Beispiel, das sich aber andererseits nicht mit den Leuten gemein macht. Totaler Solist, aber hingegeben an seine bis vor der Europameisterschaft erfolglose Nationalelf. Großmaul. Alleinerziehender Vater. Es ist doch interessant zu sehen, was so ein Mensch mit dem Fußball-Showbusiness macht und das Fußball-Showbusiness mit ihm.
Stattdessen: dafür oder dagegen?
Anderes Beispiel: Stierkampf. Ebenfalls im frühen Sommer kam der spanische Matador Víctor Barrio ums Leben, von den Hörnern eines Stiers in Lunge und Herz durchbohrt - was im sogenannten »Netz« eine Welle des Hasses auf den Verstorbenen auslöste, immer nach dem Motto »Ein Mörder weniger«, reiner Hass im Gewand des Tierschutzes und des Moralgerichts. In der FAZ erschien damals ein hochinteressanter Artikel, in dem noch einmal die Tradition des Stierkampfes dargestellt wurde, in dem es nun mal nicht um ein faires Duell zwischen Toro und Torero gehe, sondern um »ein Ritual, das im Idealfall nach der mystischen Verbindung dieser beiden Figuren strebt«, um Werte wie Tapferkeit und Stoizismus und gerade auch um Achtung vor dem Tier, das bis zum Tag seines Todes ein glückliches und artgerechtes Leben geführt habe. Das mag uns heute fremd sein, aber darum, schrieb der Autor, gehe es doch gerade: »Ertragen wir, die europäische Wertegemeinschaft, diese Fremdheit? … Oder meinen wir, es müssten von Stockholm bis Neapel dieselben Normen gelten und darüber hinaus unser eigenes, oft uninformiertes Moralempfinden?« Das waren die interessanten Fragen, die der Tod des Matadors Barrio aufwarf.
Stattdessen: dafür oder dagegen?
Muss man nicht denen, die der Welt immerzu mit den Rastern moralischer Gesinnung entgegentreten, mal sagen, dass auch Neugier und Interesse an Differenziertheit, Uneindeutigkeit und Ambivalenz moralische Forderungen sind? Ja, muss man! Ist hiermit geschehen.
Drittes Beispiel: Franz Beckenbauer. Hier wäre darauf hinzuweisen, dass die internationalen Fußball-Organisationen, die über die Vergabe von Meisterschaften entscheiden, nicht erst seit gestern einigermaßen dubiose Vereinigungen sind; im Grunde sind sie das seit ihrer Gründung. Und dass sie so sinister auch nicht nur dann waren, als sie Championate an Russland oder Katar vergaben, sondern ebenfalls, als sie Deutschland zum Ausrichter eines Sommermärchens ernannten. Das heißt nichts anderes, als dass jeder von uns auch schon vor gut zehn Jahren (falls er sich mal einen Moment lang nicht dem Taumel einer zu neuer Leichtigkeit
erwachten Nation hingab) hätte wissen können, dass man eventuell, um einen solchen Traum erleben zu dürfen, schon die eine oder andere unauffällig geöffnete Hand hatte füllen müssen. Und dass es wirklich niemals einen Anlass gab zu glauben, Franz Beckenbauer sei an materiellen Dingen nicht interessiert. Man muss ja nur mal die Steuersätze in Deutschland und Österreich vergleichen und dann den Wohnsitz des Kaisers googeln, schon kommt einem da ein leiser Verdacht.
Manchmal will man es nicht so genau wissen, nicht wahr? Aber wissen sollte man dann wenigstens auch von sich selbst, dass man es manchmal nicht so genau wissen will.
Das ist komplizierter als »dafür oder dagegen«. Aber ich bin für das Komplizierte.
Illustration: Dirk Schmidt