Ich hatte die Hoffnung aufgegeben, dass Luis je mit Lesen beginnen werde. Ich hatte alles versucht: ihm als Kind vorgelesen, ihm die interessantesten Bücher geschenkt, ihm von eigenen Lese-Erlebnissen vorgeschwärmt, ihm streng das Lesen verboten – nichts. Er las nicht. Als mir alles egal war, bot ich ihm ein Geschäft an: für jedes Buch, das du liest, fünf Euro.
Und er las. Die Geschichten vom kleinen Nick. Küsschen, Küsschen von Roald Dahl. Und noch ein Küsschen, auch von Roald Dahl. Einen Krimi für Dreizehnjährige. Einen Science-Fiction-Thriller, dessen Titel ich vergessen habe. Es waren Sommerferien, aber er lag nie in der Sonne, ging nie ins Meer, las immer im Schatten. Beinahe hätte ich ihm das Lesen verboten, ihm Geld für körperliche Ertüchtigung angeboten, aber das ging nun nicht. Also sah ich ihm beim Lesen zu und zahlte. Natürlich hörte er nach den Ferien wieder auf. Vom erlesenen Geld kaufte er sich ein Computerspiel. »Was für eine Schwachsinnsaktion!«, sagte Paola. »Immerhin habe ich in ihm die Kulturtechnik des Lesens lebendig erhalten. Er hätte es verlernt«, sagte ich und dachte, ob es anlässlich der Buchmesse in Leipzig nicht eine gute Idee wäre, allen Deutschen diesen Deal vorzuschlagen: Jeder, der ein Buch liest, bekommt fünf Euro vom Staat.
Wenn 2 500 Euro Abwrackprämie für Autos da sind, wenn wir mit Steuern Banken finanzieren können, wenn also nach jahrzehntelangem staatlichem Dauerknausern plötzlich für alles Geld da ist, dann auch für dieses kleine Weltrettungsprojekt. Verlage würden profitieren, die Bürger hätten geistig und finanziell was davon, und da das Geld in den Wirtschaftskreislauf flösse: Konjunkturprogramm!
Natürlich bin ich im Moment kein Vorbild, was Lesen angeht, ich verbringe jede freie Minute mit DVDs der Sopranos, einer amerikanischen Familienserie, die sich von anderen Familienserien dadurch unterscheidet, dass der Familienvater ein mittelständischer Mafiaboss ist. Warum bin ich jetzt, in härter gewordenen Zeiten, seriensüchtig geworden? Viele Gründe.
Der wichtigste: dass Serien etwas Stabilisierendes haben; dass man, wenn es einem zu bunt wird, die Nachrichten zu bedrohlich, auf eine andere Welt zurückgreifen kann, auf einen klar strukturierten Figurenkosmos. Es gibt Tage, an denen habe ich Zweifel, ob ich noch dieser Weltseite hier angehöre. Bin ich vielleicht längst Teil der Sopranos, ein Unterboss in New Jersey? Ein entlegener Onkel namens Alex Soprano? Und sehe mir nur in meiner Freizeit gelegentlich das Jahr 2009 und seine unglaublichen Ereignisse an? Eine Serie namens 2009?
Jedenfalls komme ich aus dem Winter als Serienmensch heraus. Warum treten übrigens heute auf dieser Seite wieder Figuren meiner eigenen Serienwelt auf? Luis. Paola. Weil Tony Soprano mich darum gebeten hat. Weil ich ihm einen Gefallen tue. Alles klar?
Paola schaut die Sopranos nicht an. Sie sieht: The L Word, Six Feet Under, Rome, The Tudors. Nur Sex and the City und Curb Your Enthusiasm sahen wir gemeinsam. Immer wieder gibt es Anläufe, die Welt des anderen zu teilen, man sieht ein paar Minuten mit, schläft dann, liest Zeitung, geht in ein anderes Zimmer. Manche Welten will man nicht kennen, andere für sich haben. Heute liege ich im Wohnzimmer vorm Gerät, Paola im Bett, mit Laptop und Tudors, einer Serie über Heinrich VIII. und seine sechs Frauen.
Dann gehe ich hinüber, nachdem Tony Soprano einen Hilfskiller hinrichtete, der auf seinen Neffen Christopher geschossen und ihn schwer verletzt hatte. Immer musste ich im Kino wegsehen, wenn Blut floss, hier gucke ich neuerdings hin. Bin sogar amüsiert. Verrohe ich? Härte ich mich durch Seriensehen für die Krise ab? Ist das seine wahre Funktion für mein Leben? Ich will mit Paola reden, aber es geht nicht. Sie hat Kopfhörer über den Ohren und weint hemmungslos. Gerade ist Anne Boleyn hingerichtet worden, Heinrichs zweite Frau.
Ich nehme Paolas Hand. Grausamkeit auf allen Kanälen. Wir müssen zusammenhalten.
Illustration: Dirk Schmidt