Leise, fast unmerkliche Verhaltensänderungen, seit es die Schweinegrippe gibt: Ich berühre Türklinken nur am äußersten Ende. Zucke zurück, wenn ich mich unwillkürlich an einem Geländer festgehalten habe.
Panik lauert überall. Nach einem heiteren Abendessen im Familienkreis setze ich mich zur weiteren Entspannung vor den Fernseher. Erwische die Report-Sendung. Es gibt einen Beitrag über Zecken-Impfungen.
»Paola!«, rufe ich. »Hier ist was über Zecken.«
Sie kommt rüber. Report zeigt ein schwer behindertes Mädchen und seine Eltern. Die Eltern sagen, der Zustand ihres Kindes sei auf eine FSME-Impfung gegen Zeckenbisse zurückzuführen. Auf mögliche Nebenwirkungen einer Impfung seien sie nicht hingewiesen worden. Ein Arzt sagt, zu ihm kämen Eltern, die Zeckenbisse als Todesurteil betrachteten, obwohl sie in einer Gegend lebten, in der Zecken kaum mit FSME infiziert seien und selbst der Biss einer FSME-Zecke bei Kindern oft nur grippeartige Symptome hervorrufe.
Paola erstarrt. Gerade habe sie Sophie gegen FSME impfen lassen.Die nächsten Stunden sitzen wir aufrecht im Bett, halten uns an den Händen, sehen zwischendurch nach den Kindern, versuchen, uns gegenseitig zu beruhigen. Warum hab ich nicht weitergezappt, sofort weiter?
Das Problem: Wir wissen immer gleichzeitig zu viel und zu wenig. Wir können am selben Tag in Bezug auf dieselbe Sache vollkommen hysterisiert, dann wieder total abgestumpft sein. Man überzieht uns mit einem Dauerfeuer an Information, Tage später ist alles vorbei. Der Grundzug unserer Zeit ist die gesellschaftliche Aufgeregtheit und der individuelle Kampf dagegen: Den ganzen Tag bringen einen Zeitungen und Fernsehen auf 180, der Einzelne wehrt sich dann mit Yoga, Wellness, Alkohol, um zur Ruhe zu kommen. Ist nicht falsch, oder? Diese Behauptung.
Kann es sein, dass wir nach dieser Art Aufregung schon süchtig sind? Dass wir immer höhere Dosen benötigen? Im Radio sagte kürzlich ein Reporter, die Zahl der Schweinegrippefälle in Bayern habe sich »innerhalb von 24 Stunden von zwei auf vier verdoppelt«.
Ich räume den Keller auf. Ein Schuhkarton fällt mir vor die Füße, Medikamentenschachteln kullern heraus, unter ihnen etliche Packungen Tamiflu. Gegen die Vogelgrippe haben wir uns das besorgt, nun sind wir gegen die Schweinegrippe damit gerüstet. Falls es die Schweinegrippe noch gibt. Lange haltbar ist das Zeug aber nicht mehr. M., meine alte Freundin, sagt, die Schweinegrippe sei von der Pharmaindustrie erfunden oder doch lanciert worden, damit wir unsere Bestände von abgelaufenem Tamiflu aus den Vogelgrippe-Jahren erneuerten.
Was haben wir schon alles überstanden! BSE, Sars, H5N1, Waldsterben, Fuchsbandwurm, Würmer in rohem Fisch, Finanzkrise. Für den Fall, dass uns die Angst ausgeht, haben wir jederzeit die Klimakatastrophe in Reserve.
Nebenbei gesagt, finde ich es eine Zumutung, dass eine Krankheit Schweinegrippe heißt. Was sollen meine Enkelkinder sagen, wenn sie einmal erfahren, Opa sei damals an Schweinegrippe gestorben? Wir haben einen Anspruch darauf, dass Krankheiten anständige Namen haben, Korff’sches Syndrom oder so. Im Pschyrembel, dem klinischen Lexikon, finde ich die Schweinegrippe gar nicht, nur die Schweinehüterkrankheit, die auch Bouchet-Gsell-Krankheit heißt, also: Es geht doch.
Dafür erfahren wir jetzt neue Wörter, zum Beispiel Chefepidemiologe. Wer drei Mal hintereinander fehlerfrei Chefepidemiologe sagen kann, ist gesund.
Dazu Folgendes aus dem Wortstoffhof: Leser S. aus Freising schreibt, als der jüngste Sohn das Lesen lernte, seien sie in einem Hotel gewesen. Der Sohn habe die Speisekarte studiert und habe dann gerufen: »Zur Nachspeise gibt es Schweineschaum! Was ist denn Schweineschaum?«
Es gab Weinschaumcreme.
Illustration: Dirk Schmidt