Sommeranfang. Und es ist fast genau drei Jahre her, dass Bruno, der Bär, erschossen wurde.
Mir geht die Geschichte vom Waschbären nicht aus dem Kopf, die vor Wochen in der Zeitung stand. Dieser Waschbär lebte im Müritz-Nationalpark in Mecklenburg-Vorpommern, wo es wilde Waschbären gibt, weil hier kurz vor Kriegsende im Frühjahr 1945 eine Pelzfarm von einer Bombe getroffen wurde. Die Tiere entkamen; sie waren sozusagen von den Alliierten befreit worden.
Dieser eine Waschbär nun, er war männlich und trug die Registrierungsmarke Nummer 5002, machte sich 2006, nicht lange nach Brunos Tod, auf die Wanderschaft, denn er suchte eine Frau, und es ist Waschbärenart, sich nicht mit Frauen in der unmittelbaren Umgebung einzulassen, sondern sie in der Ferne zu suchen. Waschbär 5002 wanderte und suchte – aber er fand niemand. Er war nach Westen gewandert, und westlich des Müritz-Nationalparks leben keine Waschbären. Rund um Kassel schon, aber das wäre mehr im Süden gewesen. 5002 jedoch marschierte an Schwerin vorbei Richtung Hamburg, weiter bremerhavenwärts. Kann es sein, dass er sich nach Amerika einschiffen wollte, wo so viele süße Waschbärinnen leben? Wir wissen es nicht. Denn am 5. März 2007 geriet der Waschbär in Oerel bei Bremervörde in eine Marderfalle, angelockt, wie die Frankfurter Allgemeine, das Fachblatt für Waschbärenschicksale, berichtet, angelockt also von einem »Negerkuss« (tatsächlich, dieses Wort). Eine Jägerin erschoss ihn. Und hörte erst jetzt vom Waschbärenforschungsprojekt im Müritz-Nationalpark, dem Nummer 5002 angehörte, meldete sich dort – so wurde dieses Schicksal erst mit zwei Jahren Verspätung bekannt.
Lange habe ich keine so anrührende Geschichte gehört. Wie dieses Tier auf der Suche nach Liebe so weit marschierte wie nie ein Waschbär vor ihm! (Denn er brach tatsächlich alle Rekorde: 800 Kilometer Wegstrecke war er unterwegs.) Wie es aber in die falsche Richtung lief, in eine weiberlose Welt. Wie es dann, in Verzweiflung und Frust, Süßigkeiten fressen wollte und schließlich einem »Negerkuss« (FAZ) zum Opfer fiel, ausgelegt von einer Jägerin.
Es ist nicht zu fassen. So viele Menschen in großen Städten, allein lebend, auf die Liebe wartend, nach ihr suchend, sie verzweifelt begehrend, können sich gewiss in des Waschbären Elend einfühlen: Von weither sind sie in die Städte gekommen, nun aber ist da niemand, der zu ihnen passt. Ratlos wühlen sie in Süßigkeitenschubladen.
Andere, auf so große wie sinnlose Weise liebende Tiere fallen mir ein. Petra, die schwarze Schwänin in Münster, die sich in ein weißes Schwanen-Tretboot verliebte und ihm folgte, wohin immer dieses Boot getreten wurde. Oder jener Pfau in der Grafschaft Gloucestershire, der eine Zapfsäule liebte, weil die darin befindliche Benzinpumpe ein ähnliches Geräusch machte wie eine vom Balzen des Pfauenmannes betörte Pfauenbraut. Tag für Tag wanderte dieser Pfau, über einen Zaun, durch einen Wald, über eine Fernverkehrsstraße zu dieser Benzinsäule. Tag für Tag harrte er neben ihr aus. Abend für Abend marschierte er, unerhört, wieder nach Hause, nur um am nächsten Morgen wieder seinen Liebesweg anzutreten und vor der pumpenden Säule zu verharren. Und Nessie fällt uns ein, das einsame Monster im Loch Ness, das letzte seiner Art, wohl nun am Seengrunde vergreisend, ohne je die Wonnen der Liebe genossen zu haben.
Im Grunde müsste dieser Waschbär das Tier des Sommers sein.
Bitte nicht wieder einer wie Kuno, der Killer-Wels, der 2001 im
Gladbacher Stadtweiher sein Unwesen trieb. Kein Rotnackenwallaby namens Manni, das 1998 aus dem Tierpark Bad Pyrmont flüchtete. Auch kein roher Geselle wie Bruno, der ein Unsympath war, nur am Fressen interessiert, am Banalsten. Der namenlose Waschbär 5002: Er starb zu früh, um im Sommerloch zu seiner wahren Größe zu wachsen. Aber wir wollen seiner gedenken, wenn wir am Sonntag aufbrechen in einen gewiss heißen Sommer der Liebe.
Illustration: Dirk Schmidt