Bruno, mein alter Freund, hat jetzt ein iPad. Nun geschah Folgendes: Wir saßen gestern Abend auf Brunos Terrasse, das Gespräch kam auf Georg Trakl, und jemand zitierte aus einem Gedicht von ihm, Helian heißt es: »Abends auf der Terrasse
betranken wir uns mit braunem Wein. / Rötlich glüht der Pfirsich im Laub; / Sanfte Sonate, frohes Lachen.«
Brauner Wein – was das solle?, fragte jemand, ein Wein sei nicht braun, und wenn er doch braun aussehe, könne man ihn nicht mehr trinken, weil er überaltert sei; es heiße bei Trakl sicher »goldener Wein« oder »purpurner Wein«.
Nein, es heiße »brauner Wein«, warum auch immer, insistierte der Gedichtaufsager, wahrscheinlich sei ein alter Madeira oder Sherry gemeint – oder gebe es in Österreich nicht sogar eine ältere Rebsorte namens Brauner Veltliner, die Trakl sicher gekannt und genossen habe?
Dies war der Moment, in dem Bruno das iPad holte. Er gab bei Google die Worte »mit braunem Wein« ein, sogleich erschien das Gedicht von Trakl auf dem Schirm, darin die Zeilen »… betranken wir uns mit braunem Wein«. Jemand behauptete jetzt, »braun« sei einfach eines der Lieblingswörter Trakls gewesen, der Wein sei eben braun, weil Trakl das Wort so gemocht habe. Bruno tippte »Trakl« und »braun«, und es traklte wirklich gleich heftig, 6530 Ergebnisse, zum Beispiel: »O wie sie die braune Stille stören, / In der ein Acker sich verzückt.« Oder: »Brauner Mädchen rauhe Lieder / Sind verweht im Blätterfall«, bitte, das ist eines meiner Lieblingsgedichte von ihm, sprechen Sie mit:
»Sonne, herbstlich dünn und zag,
Und das Obst fällt von den Bäumen.
Stille wohnt in blauen Räumen
Einen langen Nachmittag.«
Wie wäre so ein Gespräch früher verlaufen, ohne iPad? Jemand hätte nach einem Trakl-Buch gerufen, Bruno hätte keines gehabt, er hätte noch mehr Wein geholt, den hat er immer, die Unterhaltung wäre im Mutmaßen versandet. Das Internet ist ein tragbares, ausgelagertes Gedächtnis, ein Menschheitstraum ging in Erfüllung: H. G. Wells, der Schriftsteller, stellte sich in den Dreißigerjahren ein »Weltgehirn« vor, mit dem die gesamte menschliche Erinnerung jedem Einzelnen zugänglich gemacht werden könnte.
Heute kann man jederzeit und überall fast alles wissen. Vielleicht weil das so ist und weil es das gibt, werden wir selbst immer vergesslicher, kaum irgendwas können wir uns noch dauerhaft merken. Viren, die einen noch vor Kurzem täglich ängstigten, sind vergessen, Barone, die uns vor nicht langer Zeit Abend für Abend aus dem Fernsehen entgegenlachten, sind irgendwo in der Welt verschwunden – und weiß noch jemand, was nun in Fukushima geschieht oder in Tunesien? Unser Leben ist ein Surfen auf Katastrophenwellen: Haben wir eine überstanden, baut sich die nächste auf, keine Zeit mehr, sich mit der letzten noch zu beschäftigen. Wir leben in der Gegenwart, im Daueralarm, eine Menschheit am Rande des Nervenzusammenbruchs.
Übrigens las ich jetzt ein Interview mit dem Oxford-Professor Viktor Mayer-Schönberger, der ein Buch über die Tugend des Vergessens geschrieben hat, Delete heißt es. Mayer-Schönberger sagt, es gebe Menschen, die nichts vergessen könnten, noch die Bestandteile eines Frühstücks vor zwanzig Jahren seien den Leuten en detail gegenwärtig. Diese Menschen seien unzufrieden, das Leben falle ihnen schwer, insbesondere könnten sie ihre täglichen Entscheidungen nur mühsam treffen, weil ihnen jede Fehlentscheidung der Vergangenheit immer präsent sei und sie neue Fehler dieser Art fürchteten.
Insofern ist es wahrscheinlich logisch und nützlich, dass wir so schnell vergessen, während unsere Maschinen sich gleichzeitig alles merken. Aber es ist dennoch unverzeihlich, dass ich, als ich mit diesem Text begann, noch genau wusste, was ich an dessen Ende schreiben wollte, dass ich es aber während der Arbeit vergessen habe, ein Umstand, den ich dem weiteren Verlauf des Abends auf Brunos Terrasse zuschreiben muss.
Jedenfalls hört diese Kolumne eben nun einfach so auf.
Illustration: Dirk Schmidt