In den vergangenen Jahren war ich des Öfteren in Straubing, ich hatte beruflich dort zu tun. Eine sehr schöne Stadt ist das, auf deren Stadtplatz ein mittelalterlicher Wachturm steht, dessen Gemäuer wohl schon im 17. Jahrhundert bröselte und riss; man fixierte das mit Metallbügeln, der Turm steht sicher. Aber wenn ich mich recht entsinne, ist er etwas geneigt, nach Süden, nicht so deutlich wie der Turm in Pisa natürlich, aber doch. Oder sind es die umgebenden Häuser, die vom Alter gebeugt sind, und der Turm ist das einzig senkrechte in Straubing? Ich weiß nicht mehr.
Unweit des Turmes befindet sich das »Café Krönner«, zu dessen Spezialitäten die Agnes-Bernauer-Torte aus Mocca-Buttercreme mit Mandel-Nuss-Baiser-Böden gehört; man wagt nach dem Verzehr nicht mehr, den Stadtturm zu betreten, aus Angst, er könnte sich weiter südwärts beugen unter der Moccabutterlast. Trotzdem sollte kein Tortenfreund darauf verzichten, es wäre ewig schade. Agnes Bernauer war, nebenbei gesagt, Geliebte und dann Ehefrau des Herzogs Albrecht III., genannt der Fromme. Doch war sie von niederem Stand, und Albrechts Vater ließ sie, weil ihm die Liaison zuwider war, in der Donau bei Straubing ertränken, als der Sohn auf der Jagd war. Carl Orff hat ein Musiktheaterstück aus der Geschichte gemacht, das »Café Krönner« die Torte.
In der Frankfurter Allgemeinen las ich nun ein Interview mit Martin Balle, dem Verleger des Straubinger Tagblatts und neuerdings auch der Abendzeitung in München, an der mir als regelmäßigem Leser kürzlich vor allem auffiel, dass dies geliebte Münchner Blatt sowohl über das 7:1 der deutschen Fußballer gegen Brasilien als auch über das Finale der Weltmeisterschaft tags darauf mit keiner Zeile berichtete (und auch gar nicht berichten konnte, weil der Redaktionsschluss auf den frühen Abend verlegt werden musste, warum auch immer). Balle sagte, die Abendzeitung solle »nah am Leser, aber zum Wohlfühlen« sein, ein journalistisches Konzept, das vom Grundgesetz bestens gedeckt ist, in dessen Artikel 5 es bekanntlich heißt: »Die Pressefreiheit hat dem Wohlgefühl der Leser zu dienen.«
Mehr noch als dies aber fiel mir auf, was Balle über Straubing sagte: »Wenn wir alles im Straubinger Tagblatt schreiben würden, was wir über die Stadt wissen, könnte keiner mehr in dieser Stadt leben. Dann ist die Stadt fertig. Darauf muss man Rücksicht nehmen.«
Hoppala, dachte ich: Straubing! Was ist dort los, wovon ich nichts wusste? Wovon auch die Straubinger selbst in der Heiterkeit ihrer kreisfreien Stadt und der Vorfreude auf das Gäubodenvolksfest nicht das Geringste zu ahnen scheinen? Tanzen sie auf einem Vulkan? Ist Straubing eine Art Korken auf einem gigantischen unterirdischen Sekt-See und wird, wenn das ganze Land zum Beispiel von der Fußball-Freude zu sehr durchgerüttelt wird, als Erstes mit einem gigantischen Plopp ins Weltall geschossen? Weshalb die Abendzeitung vorsichtshalber allzu gute Fußball-Ergebnisse nicht mehr erwähnt: aus Sorge um Straubing! Oder ist zu fürchten, dass den Einwohnern der Himmel in Form einer riesigen Moccabuttertorte auf die Köpfe fallen könnte?
Balle sagt nicht: Schrieben wir, was wir wissen, es gäbe einen Riesenärger; die Bürger wären außer sich über die Zustände. Er sagt: Dann könnte niemand mehr hier leben. Doch keiner weiß, was Balle weiß, außer: Dieses Wissen muss so groß sein, dass, schüttete seine Zeitung es über Straubing aus, nicht mal mehr die Spitze des Stadtturms zu sehen wäre – und der ist 68 Meter hoch. Straubing wäre unter seinem eigenen Geheimnis begraben.
Somit wäre, vom Verleger selbst, nun aber wenigstens das Erfolgsrezept des Tagblatts bekannt geworden. Man liest es vor allem, um jeden Morgen sicher zu gehen, dass auch weiterhin nichts wirklich Wichtiges drin steht.
Illustration: Dirk Schmidt