Zu den ungelösten Rätseln, denen wir uns Tag für Tag im öffentlichen Raum gegenübersehen, gehört zweifellos die Litfaßsäule. Der oberflächlich orientierte Mensch, auf Bürgersteigen und Straßen zu seinen Zielen hastend, sieht in ihr nichts als ein Werbemittel: Komm ins Theater! Besuche unser Kino! Lass Dich mal wieder in der Volkshochschule blicken! Der Berliner Druckereibesitzer Ernst Litfaß, dessen 200. Geburtstag wir in wenigen Tagen feiern, am 11. Februar nämlich, hatte ja auch wirklich eine geniale Idee, nämlich: die Berliner Hauswände und Straßenbäume von all den wild aufgehängten Plakaten zu befreien, Ordnung zu schaffen in der Stadt – und der Werbung, den Annoncen, Fahndungsplakaten und öffentlichen Bekanntmachungen einen festen Ort zu geben. 1855 ließ er die erste Säule an der Münzstraße in Berlin-Mitte errichten, Tausende folgten, »steingewordene Ausrufezeichen inmitten der Verkehrsströme«, wie es in dem Buch Ernst Litfaß und sein Erbe von Steffen Damm und Klaus Siebenhaar heißt.
»Es stehen die Litfaßsäulen Verstreut, den Leuchttürmen gleich, Und lassen vom Wind sich umheulen Und werden im Regen ganz weich.« So dichtete Joachim Ringelnatz 1927. Irgendwo habe ich gelesen, dass keinem Deutschen so viele Denkmäler errichtet wurden wie Ernst Litfaß. Noch heute stehen angeblich 67 000 seiner Säulen in Deutschland herum, und während das Pissoir, die Wasserpumpe, der Feuermelder, die Rufsäule (ja, so was gab’s mal, liebe Kinder, man drückte einen Hebel und sprach mit der Polizei!), die Telefonzelle und die Normaluhr ganz oder weitgehend aus dem Sortiment unserer Stadtmöbel verschwunden sind, ist die Litfaßsäule noch da; sie ist sogar ein gefragtes Medium in Zeiten, in denen es keine festen Fernsehzeiten mehr gibt, der Computer in der Tasche steckt und junge Leute immer seltener ein Auto haben, sondern zu Fuß und mit Bussen und Bahnen unterwegs sind, in denen der Mensch also nicht mehr zu Hause hockt, sondern gerne draußen ist.
Und doch: Die Litfaßsäule bleibt, wie gesagt, ein Rätsel.
Denn nie in vielen Jahren hat mir jemand schlüssig erklären können, was sich eigentlich in ihrem Inneren befindet. Brennt dort ein Licht, wie man es immer wieder von Kühlschränken hört? Ist die Säule in Wahrheit eine Frucht, aus deren harter Schale sich nach dem Knacken in großen Mengen süßlich-bitteres Fleisch herauslöffeln ließe, reich an Vitamin C? Oder könnte es sein, dass diese Säulen nur die Enden hundert Meter langer Pfeile sind, die aus dem Weltraum abgeschossen wurden und nun im Erdreich stecken? Wohnt in einer Säule der kleine Moritz, auf der Flucht vor seiner Familie, und unterhält sich mit einer sprechenden Katze, wie in einem berühmten Kinderfilm aus DDR-Zeiten? Oder leben hier doch nur, in stiller Einsamkeit, die städtischen Strafmandatschreiber, einer pro Türmchen? Werden drinnen, fein aufgestapelt, Steuergelder aufbewahrt? Ist jede Litfaßsäule ein Bohrturm, mit dem die Stadtverwaltung unterirdische Kavernen aufmeißelt, in denen sie unendliche Vorräte an neuen Vorschriften, Verordnungen, Satzungen vermutet?
In Carol Reeds berühmtem Film Der dritte Mann gibt es eine Szene, in der Harry Lime, dargestellt von Orson Welles, vor seinem Verfolger durch dunkle Wiener Gassen flieht, die Kamera folgt ihnen – plötzlich bleibt sie an einem großen Platz stehen, auf dem eine Litfaßsäule steht. Lime ist weg, der Verfolger ratlos, wir auch. Ein Militärpolizist aber entdeckt einen in der Säule verborgenen Eingang zur Kanalisation. So dass die Litfaßsäulen nichts anderes wären als gut getarnte Zugänge zur Unterwelt? Zum Hades? Bruno, mein alter Freund, sagt, ich solle Ruhe geben, die Litfaßsäulen seien hohl, in ihnen sei nichts.
Das soll mich beruhigen? Dass sich in jedem dieser kleinen Türme das Nichts befindet?
Illustration: Dirk Schmidt