Die Brexit-Sache steckt mir in den Knochen. Vielleicht kann man diesen Moment nie vergessen? In dem man, ganz früh mit einem Blick aufs Smartphone, erkannte: Es ist tatsächlich passiert. Sie haben bei vollem Bewusstsein diesen riesengroßen Scheiß gebaut. So ein Augenblick hat eine unvergleichliche Intensität, ich möchte ihn den Schettino-Moment nennen, doch dazu später. Zuerst ein paar Bemerkungen über das Wesen der Fehlentscheidung.
Die Welt ist ja voll von Leuten, die irgendwann den falschen Weg genommen haben, aber es gibt herausragende Exemplare: den Verlagslektor zum Beispiel, der das erste Harry-Potter-Manuskript von J.K. Rowling mit dem Argument ablehnte, es sei zu lang. Oder Decca Records, die den Beatles 1962 mitteilten, sie hätten »keine Zukunft im Showbusiness«. Oder Ron Wayne, der 1976 mit Steve Jobs und Steve Wozniak die Firma Apple gründete, aber seinen Zehn-Prozent-Anteil dann für 800 Dollar zurückgab. 2015 war Apple 725 Milliarden Dollar wert, zehn Prozent davon wären – ach, lassen wir das. Wayne lebt in einem Haus in der Wüste Nevadas, habe ich gelesen. Steve Jobs ist tot. Geld ist nicht alles.
Das sind Beispiele, in denen ein Mensch, nach langem Hin und Her, nicht das Richtige getan hat, so was passiert. Und was heißt schon: das Richtige? J.K. Rowling, die Beatles und Apple sind trotzdem berühmt. Aber wenn wir uns nun dem nähern, was ich den Schettino-Moment nenne, wäre es besser, über ein Ereignis zu sprechen, das als The Charge of the Light Brigade in die Geschichte Britanniens eingegangen ist, Die Attacke der Leichten Brigade, ein Ereignis aus dem Krimkrieg 1854. Gut sechshundert britische Kavalleristen griffen damals russische Kanonen-Stellungen an, ihre Offiziere übersahen dabei bloß, dass sie dies auf einem Weg tun mussten, der von jenen russischen Kanonen leicht zu erreichen war – in Irrtum und Überschwang attackierten sie, viele starben. »Das ist großartig, aber Krieg ist das nicht, es ist Wahnsinn«, kommentierte ein General, und Alfred Tennyson schrieb ein Gedicht, das Fontane übersetzte, darin die Zeilen: »Säbel heraus! Die Klingen fein / Blinken und blitzen im Sonnenschein / Und die leichte Brigade, nun ist sie hinein / Fast über sich selbst verwundert.«
Es hat wohl auf dem Ritt einen Augenblick gegeben, in dem Captain Nolan, einer der Verantwortlichen, den Irrtum einsah und die anderen zurückhalten wollte, aber da war er schon fast von einer Kugel getroffen. Nolan war also gewiss kein Feigling wie der Kapitän Schettino, der 2012 die Costa Concordia auf die Felsen vor Giglio steuerte. Aber dieser Moment lässt sich vergleichen, die Sekunde, in der man begreift: Ich habe einen aberwitzigen Mist gebaut, und es lässt sich nicht mehr ändern. Es ist zu spät, ich bin schuld. Das hat mancher schon erlebt, man sucht bisweilen den Kick, beim Skifahren, auf dem Fahrrad, im Auto. Und jetzt sogar bei einer Volksabstimmung.
In einem Interview mit der deutsch-britischen Künstlerin Alexandra Bircken in der Süddeutschen Zeitung las ich, sie, Bircken, habe das Gefühl gehabt, niemand habe das Thema richtig ernst genommen: »Oh, ja, ein Brexit wäre furchtbar, aber ich glaube nicht, dass es dazu kommt.« Es ist aber im Leben so, dass es oft zu dem kommt, von dem man glaubt, dass es nicht kommt. Und es gibt Dinge, mit denen spielt man besser nicht, sonst ist man am Ende: fast über sich selbst verwundert …
Im Schettino-Moment erkennt einer, dass er sich das Leben besser nicht bloß als Spiel vorgestellt hätte. Der Mann wollte, die Geliebte im Arm, den Leuten an Land mal zeigen, was er für ein großes Schiff hatte – und dann rummste es wirklich. So selbstbesoffen hatte sich wohl auch Boris Johnson den Tag der Entscheidung vorgestellt: Ich, ganz groß im Lebensspiel. Und nun: er ein Leichtmatrose und das Schiff gestrandet.
Illustration: Dirk Schmidt