Der beste Satz, den die Popsängerin Mariah Carey nie gesagt hat, lautet so: »Wenn ich den Fernseher anmache und die armen verhungernden Kinder in aller Welt sehe, muss ich hemmungslos weinen. Ich meine, natürlich wäre ich auch gerne so schlank, aber nicht mit den Fliegen und dem Tod und dem ganzen Zeug.«
Dieses Zitat, eine satirische Erfindung aus dem Internet, ging seinerzeit um die Welt, wurde allgemein als echt angesehen – und löste von Malmö bis Mombasa Empörung aus: So dumm und menschenverachtend kann doch gar niemand sein! Dabei haben die Erfinder der Fälschung sehr clever an ein Tabu gerührt. Die Ernährungs-katastrophen in der Dritten Welt und das ewige westliche Schlankheitsideal dürfen auf keinen Fall zusammen gedacht werden, auch wenn beides mit Hunger zu tun hat. Die Verbindung erscheint zu explosiv.
Dabei ist Hunger, so schwer erträglich das sein mag, tatsächlich ein Überlebens- und ein Luxusproblem zugleich. Zurzeit betrachten wir Bilder von Reissäcken in Indonesien, die von bewaffneten Soldaten bewacht werden – weil der Preis für das Kilo Reis im letzten Jahr explodiert ist, weil es Missernten gab, weil Spekulanten mit dem Mangel noch Geschäfte machen, weil die Hälfte der Erdbevölkerung, die auf Reis als Hauptnahrungsmittel angewiesen ist, die gestiegenen Preise nicht mehr bezahlen kann und mit gewalttätigen Protesten reagiert. Zugleich sind wir möglicherweise stolz darauf, selbst ein leichtes Hungergefühl zu verspüren, das für Selbstdisziplin steht.
Vielleicht machen wir gerade diese oder jene Diät oder in unserem verdammten Bürojob dürfen wir einfach nicht so viel essen, wie es unser Körper gern hätte, ohne hoffnungslos in die Breite zu gehen. Das Buffet, das wir kaum noch anrühren, der verschmähte Rest auf dem Teller, das Rumoren eines nicht ganz gefüllten Magens – das sind zweifellos zivilisatorische Errungenschaften.
Zu viel Essen ist ein zentrales Problem der westlichen Gesellschaften. Im Durchschnitt sind wir zu dick und haben zu viel Appetit. Das verursacht enorme gesundheitspolitische und gesellschaftliche Folgekosten. Denn der tatsächliche Kalorienbedarf des menschlichen Körpers ist überraschend schnell gedeckt – und alles, was darüber hinausgeht, ist überflüssig und führt tendenziell zu Schwierigkeiten. Andererseits liegt die Erfahrung des echten, existenziellen Hungers auch erst eine Generation zurück, sie ist im kollektiven Bewusstsein noch präsent, zum Beispiel in der ewigen Aufforderung an die Kinder, doch bitte aufzuessen. Was gern mit dem Hinweis auf die Not in Afrika verbunden wird und der Forderung nach Dankbarkeit für den Überfluss. Das ist die einzige erlaubte Verbindung der beiden Sphären – und der Anfang unserer Gewichtsprobleme.
Evolutionär gesehen sind unsere Körper wohl immer noch darauf eingestellt, einmal in der Woche eine Gazelle zu erlegen, uns den Bauch restlos vollzuschlagen und uns dann mehrere Tage ohne Nahrung durch die Wüste zu schleppen. In einer Umgebung, die nun jeden Tag eine Gazelle liefert, aber anschließend keine Wüste mehr, wirkt dieses natürliche und einstmals sinnvolle Muster fatal. Der viel geschmähte Impuls des westlichen Popstars/Models/Abnehmers, nicht mehr jedem Hungergefühl nachzugeben, eine bewusste Kontrolle über die eigene Nahrungsaufnahme zu verhängen, ist daher richtig.
Kontrolle ist der verbindende Begriff. Wer nicht will, dass Erntezufälle und die Brutalität von Angebot und Nachfrage zu massenhaften Hungertoten in der Dritten Welt führen, wird um staatliche und sogar globale Kontrolle der Nahrungsmittelverteilung nicht mehr herumkommen. Symbolisch gesehen wird der Mann mit dem Gewehr bald dauerhaft neben dem Sack mit dem Reis stehen müssen. Und im Grunde sollten wir ihn auch gleich vor unseren Buffets postieren, wo er uns weiterwinkt: Kein Zutritt, heute schon genug gegessen. Das ist weder zynisch noch absurd. Es ist nur die andere Seite desselben Problems.
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