Briefmarke

Nur noch eine Nummer im System: Unsere schlimmsten Befürchtungen sind wahr geworden.

Neulich habe ich eine Briefmarke per SMS bestellt. Es ging überraschend einfach. Ich tippte das Wort »Brief« in mein Handy und schickte es an eine Service-Telefonnummer, die ich in einer bunten Broschüre der Post entdeckt hatte. Sekunden später kam die Antwort-SMS: »Handyporto für einen Standardbrief«, las ich dort, dann folgte eine Serie von zwölf Ziffern. »Bitte schreiben Sie die Zahlen wie dargestellt anstelle der Briefmarke auf!« Rechts oben auf den Umschlag, wo ich normalerweise die Marke hingeklebt hätte, malte ich nun also in Schönschrift einen Zahlenblock: Erst 9000, darunter 3834, darunter 8879. Es sah äußerst seltsam aus.

Dazu schrieb ich die Adresse meiner Mutter, der ich schon lange keinen Brief mehr geschickt hatte. Meine Mutter ist meine Testperson für alle irrsinnigen Neuerungen des modernen Lebens. Heimlich war ich überzeugt, dass dieser Brief niemals ankommen würde. Denn es ist ja doch ein Wahnsinn, was aus der Briefmarke inzwischen geworden ist. All diese kunterbunten afrikanischen Paradiesvögel, all diese wuchtigen Marx- und Lenin-Köpfe aus der DDR, diese ganzen winzigen Fenster, durch die meine kindliche Fantasie früher so gern in exotische Länder und fremde Welten hinausgeflogen ist – heute lassen sie sich auf zwölf simple Ziffern reduzieren. Im Grunde ein hochphilosophischer Vorgang: Denn diese Zahlen verkörpern natürlich nicht die Briefmarke selbst, nicht einmal ihre grafische Repräsentation. Die ließe sich per SMS auch gar nicht verschicken. Sie sind in etwa das, was Platon die reine Idee der Briefmarke genannt hätte. Ihrem Wesen nach transportiert so eine Marke ja nichts anderes als Information. Seht her, sagt sie: Hier hat jemand mittels Vorkasse für eine Leistung bezahlt, für die Beförderung einer standardisierten Sendung von A nach B. Dafür reichen zwölf Ziffern offenbar aus. Alles andere ist, informationstechnisch wie auch transzendentalphilosophisch gesprochen, Firlefanz.

Bevor wir jetzt zu lange darüber nachdenken, ob das nicht auch wahnsinnig traurig ist und ob wir bereits auf dem Highway in eine Höllenwelt ohne jeden Überschuss an sinnloser Schönheit unterwegs sind, bewundern wir doch lieber die gigantische Reduktionsleistung, die im Handyporto ebenfalls steckt. Seit den ersten Versuchen der Mächtigen, die schriftliche Kommunikation ihrer Untertanen zu kontrollieren, hat sich das Postwesen über Jahrhunderte hinweg zu immer größerer Bedeutung aufgebläht. Die Beförderung standardisierter Sendungen war schließlich strengste Staatsaffäre, es gab Postminister, jeder Gang zum Postschalter war ein Verwaltungsakt, jede Fälschung einer Briefmarke eine Urkundenfälschung. In seinen Briefmarken zeigte noch der kleinste Zwergstaat sein Gesicht, idealisierte die Köpfe seiner Herrscher, machte Propaganda und feierte seine Gedenktage. Im Grunde bis heute: Aktuell fordert die CSU sogar eine Sondermarke für Helmut Kohl. Die Idee, ihn bald durch zwölf nackte schlanke Zahlen zu ersetzen: Ist das nicht auch ein ungeheurer Fortschritt?

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Aber ach, die Briefkultur: Wo klebten nicht überall diese bunten Marken drauf? Auf den Liebesbriefen der größten Dichter, auf den Ideen der bedeutendsten Wissenschaftler – es ist uferlos. Auch in dieser Hinsicht wird einem schwindelig, wenn man über das SMS-Porto nachdenkt: Da laufen nun die komplexesten elektronischen Botschaften quer durchs Land, auch im Postamt muss ja zuerst ein Zentralrechner angefunkt werden, damit ich meinen persönlichen Briefmarken-Code für einen Standardbrief nur einmal verwende und nicht etwa zehnmal – und alles nur, damit man wie vor hundert Jahren ein Stück Papier übers Land schicken kann. Was im Übrigen funktioniert. »Diese komischen Zahlen in deiner Handschrift sehen merkwürdig aus«, sagte meine Mutter am Telefon, gleich am nächsten Morgen. »Aber daneben klebt ein offizielles Logo der Post. Da war ich mir gleich sicher, dass alles seine Richtigkeit hat.«